Aschenputtel als Opfer eines MissverständnissesVerhalten ekstatisches Publikum

Forbach. Unnachgiebig, entschlossen wie Jeanne d'Arc verfolgt Sandra ihren Auftrag, trägt ihr Stützkorsett wie eine Rüstung. Nein, bei Pommerat ist Aschenputtel kein armes Hascherl, das sich von der bösen Stiefmutter zur Kloputzfrau herabsetzen lässt. Freiwillig greift sie tief hinein in die familiären Exkremente, die den Abort verstopfen und übernimmt auch sonst alle niederen Arbeiten

Forbach. Unnachgiebig, entschlossen wie Jeanne d'Arc verfolgt Sandra ihren Auftrag, trägt ihr Stützkorsett wie eine Rüstung. Nein, bei Pommerat ist Aschenputtel kein armes Hascherl, das sich von der bösen Stiefmutter zur Kloputzfrau herabsetzen lässt. Freiwillig greift sie tief hinein in die familiären Exkremente, die den Abort verstopfen und übernimmt auch sonst alle niederen Arbeiten. Um sich zu bestrafen. Denn bei Joel Pommerat trägt Aschenputtel eine Schuld mit sich herum - die jedoch auf einem tragischen Missverständnis beruht. Den letzten genuschelten Worten ihrer Mutter am Sterbebett hat die Tochter entnommmen: Nur wenn sie ununterbrochen an die Mutter denke, sei diese nicht wirklich tot. Um sich vor der Vergesslichkeit zu wappnen, trägt das Mädchen fortan eine Armbanduhr, die alle fünf Minuten ein quäkiges Wiegenlied spielt und damit die neue Stieffamilie nervt. Spießige Blümchenkleider wie in den 50er Jahren tragen Sandras neue Schwestern, dazu ein Handy. Eher gemein als richtig böse sind die kleine Dicke und die große Dürre, auch die "Stiefmutter in spe", eine ebenso üppige wie resolute Blondine, meint es mit Sandra eigentlich gut. In einem Glashaus nimmt die auf ihr jüngeres Aussehen bedachte Witwe, die sich vom Leben noch Größeres erwartet, den gutmütigen Witwer mit der kratzbürstigen Tochter auf. Weil Sandra immer Vaters heimliche Kippen entsorgt, nennen die Schwestern sie "Aschenbecher". Ein Wortspiel: Aus "Cendrillon" (frz. Aschenputtel) wird "Cendrier". Pommerats Räume sind reine Projektionen. Schwarz-weiße Tapetenmuster, Lichtstreifen, die sich immer leicht bewegen und den Zuschauer schwindeln machen. Nur mit Licht, Klängen und verstärkten Geräuschen kreiert er von Black-Outs rhythmisierte Bilder, die sich einbrennen und den Atem verschlagen. Wie es einem Märchen gebührt, gibt es auch bei Pommerat eine Erzählerin, eine sanfte Stimme aus dem Off, und eine gute Fee - eine struddelige Kettenraucherin, die sich beim Zaubern schon mal vertut. Seine acht Darteller setzt der französische Autor und Regisseur fast alle in Doppelrollen ein, alle gleich stark, präsent und bis hin zur Physiognomie überzeugend besetzt. Wie Pommerat Komik und Melancholie in der Balance hält, kann man nicht genug rühmen. Auch wie modern er seine Fabel auflöst, ohne ihr das Märchenhafte zu nehmen. Sandra-Cendrillon selbst ist es, die sich hier von der zerstörerischen Mutterbindung erlöst. Indem sie auf einen kleinen Prinzen trifft, der ein ähnliches Schicksal teilt. Fürs Happy End braucht es folglich auch keine Heirat, eine lebenslange Brieffreundschaft reicht.Saarbrücken. Was drischt in Fantasiekostüm und Kriegsbemalung auf eine Trommel ein, wirft mit Federn um sich und hat ein Felldeckchen übers Keyboard geworfen, so dass sich der Eindruck einer Großstadt-Indianerin hinterm Bügelbrett aufdrängt? MOZiiMO heißt die korsische Nymphe, die am Donnerstag im Rahmen des SR-"Bistrot Musique" den Festivalclub der Perspectives beehrte. Doch hieß es Geduld mitbringen, denn infolge eines plötzlichen Fieberschubs der jungen Techno-Chansonneuse startete das Konzert mit Verspätung. Als Solokünstlerin fabriziert MOZiiMO schrägen Elektropop, bei dem sie Echo-geschwängerten Sprechgesang mit Falsett-Sirenen kombiniert und ihre diversen elektronischen Effektgeräte mitunter ganz archaisch mit Zunge und Nase bedient. "Voulez-vous danser avec moi?" Nein, freiwillig tanzen mochte niemand, da bedurfte es schon der Aufforderung. Trotz bronchialen Siechtums war der Zier-Amazone, die ungebremst ins Mikro hustete, das Clubpublikum viel zu brav: MOZiiMO forderte animalische Wildheit und Schreie, und kurzfristig kamen einige Zuhörer diesem Wunsch auch nach. Insgesamt eine durchaus originelle Darbietung, aber vielleicht ist das Ganze in einem Pariser Nachtclub, wo laut Moderator Gerd Heger 70 Euro Eintritt dafür geblecht werden müssen, doch besser aufgehoben als in einem bestuhlten Konzert.Mit den oft schwarzhumorigen Liedern Roger Steins folgte hochkarätiges literarisches Kontrastprogramm, auch wenn der beruflich (Duo "Wortfront") und privat mit Georg Kreislers Tochter Sandra verbandelte Liedermacher sein E-Piano ebenfalls gern mit elektronischen Zuspielungen aufmotzt. Bei seinen Auftritten im Saarland scheint der gebürtige Schweizer vom technischen Pech verfolgt: Als er im Oktober in Sulzbach beim neuen deutsch-französischen Chansonpreis "Sulzbacher Salzmühle" abräumte, machte sich sein Mikrofon selbständig; hier funkten Störsignale. Routinier Stein blieb souverän, sang von Reihenhausgesichtern, Bergbauernbuben und Volksmusikfans. Ein Abend mit weit gespanntem Chanson-Expander. kek

Auf einen Blick

Für Kurz-Entschlossene gibt es heute noch ein Kombi-Ticket für drei Veranstaltungen. Für 24 Euro kann man die dokumentarische Performance "Jérusalem plomb durci" (18 Uhr), das Stück "Money - It came from outer space" (20 Uhr) und ab 21.30 Uhr die große Abschlussparty mit funkiger Balkanmusik des Flying Orkestar erleben (im Festivalclub). red

Karten unter

Tel. (06 81) 93 81 56 18.

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