An Labour-Chef Corbyn prallt die Kritik ab

London · Jeden Mittwoch pflegt die britische Politik in alter Tradition ihre Debattenkultur. Während der wöchentlichen Fragestunde der Premierministerin herrscht bisweilen ein Gebrülle und Gejohle wie im Pub. Der Höhepunkt ist das Duell zwischen Regierungschef und Oppositionsführer. Umso gespannter erwarteten Beobachter die Parlamentsdebatte nach der Sommerpause, nach dem historischen Brexit-Votum, nach all dem Chaos, das die Insel wochenlang lähmte. Die Konservative Theresa May stand dem Labour-Chef Jeremy Corbyn gegenüber. Was folgte, war jedoch vor allem bezeichnend für den desolaten Zustand der Opposition. Corbyn ließ tatsächlich das wichtigste Thema aus: das Brexit-Votum. Die Kritik aus den eigenen Reihen kam sofort, aber an Corbyn prallt sie ab, wohl weil er sich an sie gewöhnt hat. Interne Auseinandersetzungen stehen auf der Tagesordnung der tief zerstrittenen Labour-Partei.

So kämpft die große Mehrheit der Fraktion und ein Teil der Basis seit Monaten erbittert gegen den Labour-Chef, doch der Altlinke will nicht gehen. Er verweist stets auf die breite Basis, bei der er als Star gefeiert wird, sowie den Rückhalt aus den Gewerkschaften. Und tatsächlich ging er nun wieder gestärkt in den Parteitag in Liverpool, der gestern begann. Der 67-Jährige wurde am Samstag mit deutlicher Mehrheit im Amt bestätigt. 61,8 Prozent der Parteimitglieder stimmten in einer Urwahl für ihn. Sein Gegenspieler Owen Smith, der vom Großteil der Labour-Abgeordneten unterstützt wird, war ohne Chance.

Der Konflikt schwelt, seit Corbyn im vergangenen Jahr nach der Parlamentswahl-Niederlage überraschend die Urabstimmung zum Parteichef gewann. Ausgerechnet der Hinterbänkler, der in 30 Jahren im Parlament bei Abstimmungen rund 500 Mal gegen die Parteilinie votiert hat, siegte wegen einer Änderung des Wahlverfahrens. So konnten Sympathisanten für drei Pfund den Vorsitzenden wählen.

Dieses Mal kostete die Teilnahme 25 Pfund, aber noch immer lockte das System viele junge, von Politik und Globalisierung enttäuschte Wähler an, die einen radikalen Kurs fordern und weniger das große Ganze vor Augen haben: Ob Corbyn auch eine Parlamentswahl für sich entscheiden könnte?

Hier liegt das Problem: Umfragen zufolge führen die Tories in der Wählergunst zwar nur um sieben Prozentpunkte vor den Sozialdemokraten , doch wenn es um den Beliebtheitsgrad der Vorsitzenden geht, ist die Situation verheerend für Labour: May liegt bei 50 Prozent, der Labour-Chef bei lediglich 18 Prozent. Corbyn jedoch habe sich seine eigene Realität geschaffen, lautet die Kritik . Er fordert etwa einen Minister für Weltfrieden, radikale Investitionsprogramme für das Bildungswesen sowie die Verstaatlichungen der Eisenbahnen.

Der Streit brach nach dem Referendum um die EU-Mitgliedschaft aus. Die meisten Sozialdemokraten standen auf der Seite der Europafreunde, Corbyn offiziell zwar auch - aber halbherzig. Etliche Labour-Abgeordnete schieben die Schuld für die Niederlage beim Referendum denn auch auf ihren Vorsitzenden. Sicher ist: Labour ist derzeit zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um eine wirkliche Alternative für die mit der konservativen Regierung unzufriedenen Briten zu sein.

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