Allseitige KundenumgarnungWenn ein Kulturgut vom Thron stürzt

Saarbrücken. Lange Zeit bestimmten Kannibalierungseffekte durch die Flächenexpansion der Großen die Buchbranche - Thalia (248 deutsche Filialen derzeit) und die aus der Fusion von Hugendubel und Weltbild hervorgegangene DHB-Gruppe (98 Filialen). Inzwischen aber ist die Eroberungspolitik der Filialisten an ihre Grenzen gestoßen

Saarbrücken. Lange Zeit bestimmten Kannibalierungseffekte durch die Flächenexpansion der Großen die Buchbranche - Thalia (248 deutsche Filialen derzeit) und die aus der Fusion von Hugendubel und Weltbild hervorgegangene DHB-Gruppe (98 Filialen). Inzwischen aber ist die Eroberungspolitik der Filialisten an ihre Grenzen gestoßen. Unterwegs gingen seit 1999 20 Prozent der deutschen Buchhandlungen verloren. Unterm Strich heißt das: Die Uniformierung des stationären Buchhandels hat in der letzten Dekade erheblich zugenommen. Bleibt das zweite Dauerthema: der Jahr für Jahr ungebrochen wachsende Marktanteil des Online-Buchhandels. Ursache dafür ist die generelle "Internetisierung" der Gesellschaft. Bequemlichkeit und Schnelligkeit sind heute spielentscheidend. Die generelle Anonymisierung des Alltags spielt dem Onlinemarkt ebenfalls in die Hände. Dass all die dort umherstreunenden Schnäppchenjäger die Infrastrukturen vor Ort, den stationären Handel, immer weiter ausdünnen, ist Online-Shoppern in der Regel völlig egal. Die Zuwachsraten von Amazon sprechen da eine klare Sprache. Je mehr der stationäre Buchhandel inzwischen eigene Internetportale aufbaut und sich, um Amazon & Co. nicht länger das Feld zu überlassen, in Richtung Medienhandel orientiert, geraten nun andere Themen in den Fokus. In erster Linie der gute alte Konsument, dessen verändertes Medienverhalten eine strategische Neuausrichtung der Branche verlangt. Nicht nur, dass Buch-Käufer (oder muss man schon sagen: Content-Käufer?) immer unabhängiger von den Angeboten der Verlage und Buchhandlungen werden. Sie navigieren sich immer zielgenauer selbst durchs Datenmeer. Und nutzen auch bereitwilliger Netz-Communities, die zusehends die Beratungsrolle des klassischen Buchhändlers übernehmen. Dass Online-Bookshops heute solchen Zulauf haben, hat auch mit ihrem erheblich verbesserten Service zu tun. Man arbeitet an der Perfektion automatisierter Beratung: durch das Bereitstellen von Rezensionen, durch Kaufvorschläge auf Basis individualisierter Konsumentenprofile.In ihrer Dissertation "Quo vadis, Buchhandel?" schreibt Dorothea Redekers, die zuvor drei Jahre lang den Sortimenterausschuss des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels geleitet hat, am nachhaltigsten werde unsere gesamte Wissensbranche durch das veränderte Medienverhalten im Zuge ihrer Digitalisierung umgekrempelt. Inhalte würden zunehmend "in Eigenregie gesucht". Jenseits des klassischen Buchformates. Im Wissenschafts- und Sachbuchbereich zeitigt dieses neue Nutzerprofil bereits statistisch massive Ausschläge: Ihre Umsätze brechen Monat für Monat weiter ein, weil der Aktualitätswert digitaler Publikationen unschlagbar ist. Doch wird es dabei nicht bleiben. Ereilen dürfte die Branche auch, womit die Musikindustrie bis heute schwer zu kämpfen hat: das (legale oder illegale) Downloaden von Daten. Nicht nur Redeker aber ist gleichwohl sicher, dass die Buchkäufer auch in Zukunft auf die immer wellnesshaftere Züge annehmenden Angebotslandschaften des Filialhandels nicht verzichten werden. Stöbereien auf dem Sofa bei einem Kaffee, das werde weiter ziehen. Eingefangen wird mit Ambiente. Redeker glaubt, dass Buchläden und Online-Shops für die Kunden "gleichberechtigte Welten" bleiben. Dem traditionellen Buchhandel rät sie zu stärker thematisch ausgerichteten Präsentationen und zu Vermarktungspartnerschaften mit anderen Einzelhändlern. Werden Reiseführer dann auch in Reisebüros, Ratgeber in Baumärkten, Romanzen in Kinos verkauft? In die Offensive geht der Handel bereits. Erfinderische Buchhändler bauen sich ihre eigene Community auf, indem sie ihren Laden abends ein paar Stunden privaten Lesezirkeln öffnen. Lesungen werden per Livestream ins Internet übertragen, wie dies Osiander mit Herta Müller in Tübingen unlängst vormachte.Treffend bilanziert das Branchenmagazin "Buchmarkt", dass sich der Strukturwandel nach dem Ende der Flächenexpansion nun "nach innen verlagert". Weil das Buch letztlich eben doch eine Ware ist, nimmt Marketing dabei eine Schlüsselrolle ein. Jeder Dritte von über 1300 befragten Branchen-Fachleuten gab in einer Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung zu Protokoll, dass Marketingspezialisten heute die führende Rolle in den Verlagen zukomme. Frankfurt. Die Studie "Buchmarkt 2020" im Auftrag des Börsenvereins prognostiziert, dass in zehn Jahren die Frage, auf welchem Datenträger Informationen übermittelt werden - ob in Buch- oder Datei-Form - weiter an Bedeutung verliere. Trennlinien würden verschwimmen, weil "alle Medien konvergieren und die Inhalte in multimedialer Form zugänglich sind". Die Studie versucht einerseits Folgen der Kommerzialisierung und Digitalisierung des Marktes sowie andererseits der Diversifizierung der Konsumenten auszuleuchten. Was zählt, nicht wieDabei geht man von drei möglichen gesellschaftlichen Szenarien aus. 1) Sollte das Buch als geschütztes Kulturgut unter die Räder des Neoliberalismus kommen, könnte nicht nur die Preisbindung (und der in der Studie nicht erwähnte reduzierte Mehrwertsteuersatz) kippen, sondern sich auch die Rolle der Verlage wandeln: Autoren könnten - die übliche Wertschöpfungskette ganz alleine abspulend - sich selbst verlegen, wie überhaupt die verlegerische Aufbereitung von Inhalten dann nurmehr "eine marginale Rolle" spiele. Im Zeichen eines rasanten Kosten- und Aktualitätsdrucks entscheide die sofortige Verfügbarkeit von Content.2) Sollte 2020 nicht das totale Marktdiktat gelten und Bücher einem zweiten Szenario zufolge weiter als "Leitmedium" einer Zivilgesellschaft gelten, so werde gleichwohl die Kommerzialisierung fortschreiten. Autoren und Verlage würden als Marken und Teil der großen Medienshow inszeniert, Bestseller alles noch stärker dominieren und der Wettbewerb zwar forciert, der Buchmarkt aber ein relativ "geschützter Bereich" bleiben. Einer, in dem Nischenprodukte und Experimente überlebten. Umso mehr, weil "der innovative und spielerische Charakter" des Internets sich abnutzen werde.3) Das dritte, unwahrscheinlichste Szenario geht von einer medienaktiven Wissensgesellschaft aus, für die im Zuge ihrer Wikipediarisierung nurmehr der Content und nicht mehr das Medium zähle. Was noch in Buchform erscheinen werde, suggeriere, mit besonderer Sorgfalt erstellt und von bleibendem Wert zu sein. "Die differencia specifica ist ganz eindeutig der Gehalt, nicht das Medium (Papier)." Das Ende des Buches wird in keiner der drei Zukunftsprojektionen eingeläutet. Generell dürfte der zielgruppenspezifische Mehrwert medialer Angebote stärker denn je über deren Attraktivität entscheiden. cis

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