Gelenke verkraften selbst extreme Laufbelastungen

In Deutschland starten im Jahr etwa 140 000 Freizeitsportler bei einem Marathon und 130 000 bei einem Triathlon. Die hohen Belastungen beim Laufen schaden dem Gelenkknorpel gesunder Sportler nicht. Sie können dem Knorpel sogar guttun, zeigt eine bahnbrechende Studie.

 Projektleiter Dr. Uwe Schütz (links) und Dr. Christian Billich im Lkw mit dem mobilen Kernspin-Gerät. Foto: Universitätsklinikum Ulm

Projektleiter Dr. Uwe Schütz (links) und Dr. Christian Billich im Lkw mit dem mobilen Kernspin-Gerät. Foto: Universitätsklinikum Ulm

Foto: Universitätsklinikum Ulm

Selbst extreme Laufbelastungen führen bei durchtrainierten Sportlerinnen und Sportlern ohne Fehlstellungen der Gelenke und Vorschäden zu keinen dauerhaften Schädigungen am Gehirn und an den Gelenken. Vielmehr zeigt der Knorpel der Knie- und Fußgelenke eine erstaunliche, bisher noch nie nachgewiesene Fähigkeit zur Regeneration. Den kurzzeitigen Schwund an Hirnvolumen gleicht der Körper nach dem Ende der Strapazen wieder aus.

Zu diesem Ergebnis sind Wissenschaftler der Universitätsklinik Ulm gekommen, die 67 Teilnehmer, darunter neun Frauen, des Transeuropa-Laufs im Jahr 2009 während des gesamten Wettkampfs ständig medizinisch untersucht hatten. Im Gegensatz zu einem Marathonlauf, der über 42,2 Kilometer führt, handelte es sich beim Transeuropa-Lauf um einen Ultramarathon, bei dem in 64 Tagen 4488 Kilometer zurückgelegt wurden. Von den Ausdauersportlern, die im italienischen Bari an den Start gingen, erreichten 45 das Ziel am Nordkap.

Ein Team von Wissenschaftlern und Medizinern von der Klinik für Diagnostische und Interventionelle Radiologie der Uniklinik Ulm begleitete die Sportler mit einem mobilen Kernspingerät (MRT) über die gesamte Distanz. Das mobile Gerät wurde auf einem Sattelzug mit einem Gesamtgewicht von 37 Tonnen durch ganz Europa transportiert, dazu ein Materialtransporter, der noch ein separates Stromaggregat im Schlepp hatte.

Die Forscher fertigten nicht nur MRT-Aufnahmen an, die detaillierte Bilder der Gewebe- und Organstrukturen im Körper lieferten, sondern maßen täglich auch die Temperatur und Hautfaltendicke der Ultraläufer. Zudem wurden regelmäßig Urin- und Blutproben genommen.

Extremes Laufen kann zu einem deutlichen Schwund an grauer Hirnsubstanz führen. Das ist eine der aufregenden Erkenntnisse, die die Forscher nach Auswertung erster Daten gewonnen haben. Als graue Hirnsubs tanz werden die eng untereinander vernetzten Nervenzellen im Gehirn bezeichnet. "Die Auswertung der MRT-Aufnahmen zeigte, dass das Volumen der grauen Hirnsubstanz am Ende der gut zwei Monate dauernden Extrembelastung im Durchschnitt um 6,1 Prozent zurückgegangen war", erläutert Projektleiter Dr. Uwe Schütz. Die Gehirne schrumpften jedoch erst, als die Läufer in Skandinavien eingetroffen waren. Betroffen war der Bereich, der die visuellen Eindrücke verarbeitet. Während die Läufer wegen des dichteren Verkehrs in Italien, Österreich und Deutschland noch ständig die Augen offenhalten mussten, war das visuelle System in den verkehrsarmen Weiten von Schweden, Finnland und Norwegen nur noch wenig gefordert.

Das könnte erklären, warum es bei extremer körperlicher Belastung zu einem Schwund an Gehirnsubstanz kommt. "Der weit überdurchschnittlich hohe Energiebedarf während des Ultramarathons hat dazu geführt, dass die Fettreserven des Körpers völlig aufgebraucht wurden", erläutert Dr. Christian Billich von der Uniklinik Ulm. "Teilweise nahm die Ganzkörperfettmasse der ohnehin schlanken Extremläufer um über 50 Prozent ab. Der Körper baut dann auch Muskelmasse ab, die aus Eiweiß besteht, um Energie zu gewinnen, und er schaltet offenbar weniger benötigte Hirn areale vorübergehend ab, um Energie einzusparen. Auch der hohe tägliche Wasserverlust mag dabei eine Rolle spielen."

Bei den Teilnehmern des Transeuropa-Laufs war der Schwund an Hirnvolumen jedoch nicht von Dauer. "Acht Monate später zeigten erneute MRT-Aufnahmen, dass sich die Hirnsignale der Ultraathleten wieder vollkommen erholt hatten", erläutert Uwe Schütz. "Wir konnten keine dauerhaften Hirnschädigungen feststellen." Christian Billich ergänzt: "Bei den Extremläufern zeigte sich sogar, dass die Hirnregionen, die für Ausdauer und Willensstärke zuständig sind, während des Laufs leicht zugenommen hatten."

In der Medizin ist schon länger bekannt, dass beim natürlichen Alterungsprozess die graue Hirnsubstanz durchschnittlich pro Jahr um 0,2 Prozent abnimmt. Man spricht von einer Atrophie des Gehirns, einem Gewebeschwund, der allerdings nicht mehr umkehrbar ist.

Ihr Hauptaugenmerk haben die Ulmer Forscher jedoch vorerst darauf gerichtet, wie sich die extreme Laufbelastung über zwei Monate auf die Gelenke der Teilnehmer auswirkte. "Es war aus wissenschaftlicher Sicht besonders wertvoll, dass wir die gesamten Veränderungsprozesse in den Körpern lückenlos aufzeichnen konnten", schreiben die Wissenschaftler. Normalerweise beschränken sich sportmedizinische Studien auf Vorher-Nachher-Befunde. Beim Transeuropa-Marathon untersuchten die Experten die Läufer aus zwölf Nationen, die pro Tag zwischen 44 und 95 Kilometern zurücklegten, täglich. "Auf den ersten 1500 bis 2000 Kilometern registrierten wir in allen Gelenken Signalmoleküle, die eine Störung im Knorpel anzeigten", erläutert Uwe Schütz. Lediglich der Knorpel der Kniescheiben zeigte keine Auffälligkeiten. "Das hängt wohl damit zusammen, dass dieser Teil des Kniegelenkes beim Laufen auf der Ebene keine relevante Belastung erfährt", sagt Schütz.

Auf den Knorpel der Knie-, Fuß- und Sprunggelenke wirkte sich die Extrembelastung jedoch aus: am Anfang negativ, am Ende positiv. Das ist die zweite bahnbrechende Erkenntnis, die die Ulmer Forscher gewonnen haben. Sie konnten erstmals am Menschen nachweisen, dass Knorpel unter dauerhaft hoher gleichmäßiger Belastung nicht zerstört wird, sondern sich regeneriert.

Während zunächst die ständige Druckbelastung Wasser aus dem Knorpel presste und die oberflächlichen Kollagenfasern angriff, sodass das die Knorpelsubs tanz an Stabilität verlor, kam es nach 2000 bis 2500 Kilometern zu Anpassungserscheinungen, die bislang noch völlig unbekannt waren. "An der Knorpeloberfläche bildete sich neues Gewebe, sogenannte Glykoproteine", erklärt Christian Billich. Das heißt, der Knorpel enthielt letztlich sogar etwas mehr Substanz und konnte mehr Wasser binden als vor dem Marathon. Das gilt für Sprunggelenke, Knöchel, Mittelfuß und das Kniegelenk im Bereich zwischen Oberschenkel-Knochen und Schienbein. Selbst die Fußgelenke, die wegen ihrer kleinen Gelenkfläche pro Flächeneinheit größeren Belastungen ausgesetzt sind, zeigten die positiven Effekte.

Interessant ist zudem der Befund, dass sich der Durchmesser der Achillesferse vergrößert hatte. Knochen seien durch die enormen Belastungen tendenziell nicht in Mitleidenschaft gezogen worden, auch wenn es bei zwei Läufern zu Ermüdungsbrüchen im späteren Rennverlauf gekommen sei, berichtet Uwe Schütz.

Zum Thema:

Viele Läufer, vor allem Anfänger, die sich auf einen Wettkampf vorbereiten, trainieren zu intensiv und umfangreich, was oft zu den bekannten Überlastungsschäden wie Knorpelschäden, Muskelödemen und Ermüdungsbrüchen führen kann. Zwei Jahre Training sind für Untrainierte mindestens erforderlich, um für einen Marathon fit zu sein. Ab zirka 100 Kilometer Trainingsumfang pro Woche nehmen Überlastungsschäden dramatisch zu, da den Sportlern nicht genug Zeit zum Regenerieren bleibt. Die wenigsten Überlastungsschäden treten bei Läufern auf, die beim Training ein Mittelmaß wahren. ml

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