Eine kleine Wohnung mit großer Geschichte

Stockholm · Zu Besuch bei Astrid Lindgren: In ihrem Vier-Zimmer-Apartment in Stockholm hat die Autorin mehr als 60 Jahre gelebt und gearbeitet.

 Die Schreibmaschine im Arbeitszimmer ihrer Stockholmer Wohnung nutzte Astrid Lindgren nur, um ihre Manuskripte abzutippen. Foto: Saltkråkan

Die Schreibmaschine im Arbeitszimmer ihrer Stockholmer Wohnung nutzte Astrid Lindgren nur, um ihre Manuskripte abzutippen. Foto: Saltkråkan

Foto: Saltkråkan

(dpa) Das aufschlussreichste Detail in Astrid Lindgrens Wohnung in Stockholm ist ein Stück abgewetzter Teppich. Genau vor ihrem Bett ist der billige braune Belag an einer Stelle komplett ausgetreten - da, wo sie morgens immer ihre Füße hinsetzte. Drei Dinge lassen sich daraus ableiten. Erstens Astrid Lindgren lebte sehr lange hier. Zweitens sie war ein Gewohnheitsmensch. Und drittens sie muss wohl sehr bescheiden gewesen sein - sonst hätte sie den Teppich wohl irgendwann ausgetauscht.

Seit einiger Zeit steht das Heim der berühmten Kinderbuchautorin Besuchern offen. An der fast schäbig wirkenden Wohnungstür hängt ein unscheinbares Schild: "A Lindgren". Man tritt ein, hängt den Mantel auf. Auf dem Weg durch den Flur knarren die Dielenbretter. Im Esszimmer steht eine Tasse Tee auf dem Tisch. Apfelsinen und ein halb gefülltes Marmeladenglas deuten darauf hin, dass die Küche hin und wieder noch genutzt wird. Zugleich wirkt vieles wie aus einer anderen Zeit: Die Gläschen im Gewürzregal gibt es heute nicht mehr zu kaufen.

Es ist ungefähr so, als würde man noch einmal die Wohnung seiner längst verstorbenen Großeltern betreten. Gleichzeitig machen die Zimmer einen belebten Eindruck, weil hier hin und wieder noch die Tochter und die Enkel von Astrid Lindgren zusammenkommen. Die Wohnung hat dadurch überhaupt nichts Museales. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, Astrid Lindgren sei nur mal eben raus, die Milch zu holen.

"Als Astrid 2002 starb, war sich die Familie darüber im Klaren, dass viele Leute gerne sehen würden, wo und wie sie gelebt hat", erzählt Cilla Nergårdh, Sprecherin der Lindgren-Erben. Das Problem war, dass Lindgrens Tochter Karin Nyman - heute ist sie über 80 - den Ort ihrer Kindheit und Jugend nicht in fremde Hände geben wollte. "Schließlich hat die Familie gesagt: Lasst uns einfach ganz klein anfangen mit Gruppen von maximal zwölf Personen."

Die Vier-Zimmer-Wohnung im ersten Stock des Altbaus Dalagatan 46 liegt im Stockholmer Vasaviertel, Lindgren-Kennern vertraut aus ihrem Roman "Karlsson vom Dach". Astrid Lindgren bezog die Wohnung 1941, gemeinsam mit ihrem Mann Sture, ihrem 15 Jahre alten Sohn Lars und ihrer damals sieben Jahre alten Tochter Karin. Es gefiel ihr so gut, dass sie sogar ein richtig schlechtes Gewissen hatte, ein so schönes Zuhause zu haben, während in Europa der Zweite Weltkrieg wütete. Mehr als 60 Jahre lebte sie hier, bis zu ihrem Tod 2002 im Alter von 94 Jahren. Die Wohnung ist der Entstehungsort all ihrer Bücher. Sie schrieb sie in ihrem Bett - ausschließlich morgens direkt nach dem Wachwerden. Gegen Mittag fuhr sie in den Verlag, in dem sie als Kinderbuchlektorin arbeitete, auch noch, als sie schon weltberühmt war. Die mechanische Schreibmaschine im Arbeitszimmer nutzte sie nur, um ihre in Stenoschrift verfassten Manuskripte abzutippen.

Ein anderes Bett ist ebenfalls legendär: Es steht im Gästezimmer und gehörte einst ihrer Tochter Karin. 1941 musste Karin darin eine Lungenentzündung auskurieren, und weil sie sich langweilte, sagte sie zu ihrer Mutter: "Erzähl mir was von Pippi Langstrumpf!" Und damit fing alles an. Als Astrid Lindgren 1944 auf einem der vereisten Wege im Vasapark ausrutschte, sich den Fuß verstauchte und selbst das Bett hüten musste, begann sie, die Geschichte von Pippi Langstrumpf aufzuschreiben.

Den Vasapark, das kleine Stück Natur direkt vor ihrer Haustür, liebte sie, und wenn man ihn besucht, weiß man, warum. Im Winter laufen Kinder Schlittschuh, die großen alten Bäume sind schneebedeckt, und dahinter ragen die stattlichen Altbauten des Vasaviertels auf. Irgendwo dort zwischen den Schornsteinen muss Karlsson gewohnt haben. Die Wege im Park sind immer noch vereist. Wer nicht aufpasst, rutscht aus - genau wie Astrid Lindgren.

Millionen Menschen sind mit den ländlichen Paradiesen Bullerbü, Lönneberga und Birkenlund aufgewachsen - Orte, an denen Kinder noch Kinder sein durften. Sie verbinden den Namen Lindgren vor allem mit ländlicher Idylle. Doch die Autorin selbst hat ihr ganzes langes Erwachsenenleben in der Großstadt verbracht. Mit 18 Jahren verließ sie ihren kleinen Heimatort Vimmerby, weil sie unverheiratet ein Kind erwartete, ging nach Stockholm und blieb für immer. In ihrer Wohnung erinnern nur einige Bilder über ihrem Bett an die Bullerbü-Kindheit.

In den stillen Räumen gibt es vieles zu entdecken. Die Wände hängen voller Bilder, viele davon Original-Zeichnungen aus ihren Büchern. In einer Ecke steht eine blauweiße Schüssel: ein Geschenk des russischen Präsidenten Boris Jelzin, der sie 1997 besuchte. In der früheren Sowjetunion erzielten ihre Bücher neben Deutschland die höchsten Auflagen. Der Mittelpunkt ihrer Wohung ist jedoch das Wohnzimmer: Hier stehen ihre Bücher in vielen Sprachen im Schrank, darunter auch eine Erstausgabe von Pippi Langstrumpf.

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 Die Geschichte von Pippi Langstrumpf und ihrem Äffchen Herr Nielsson hat Astrid Lindgren vor knapp 75 Jahren in ihrer Wohnung verfasst.Foto: dpa

Die Geschichte von Pippi Langstrumpf und ihrem Äffchen Herr Nielsson hat Astrid Lindgren vor knapp 75 Jahren in ihrer Wohnung verfasst.Foto: dpa

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Astrid Lindgrens Wohnung in Stockholm Von 1941 bis 2002 bezog Astrid Lindgren, die vor allem für ihre Kinderromane Pippi Langstrumpf, Ronja Räubertochter und Die Kinder aus Bullerbü bekannt ist, eine kleine Vier-Zimmer-Wohnung in der Dalagatan 46 in Stockholm. Um heute das Heim und die Arbeitsstätte der schwedischen Schriftstellerin besuchen zu können, ist eine vorherige Anmeldung im Internet notwendig. www.astridlindgrenshem.se

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