Pseudonymität im Netz erleichtert Pöbeleien

Stuttgart (dpa) · Im Internet lassen sich manche Menschen beim Schimpfen und Hetzen mitreißen, die im realen Leben eigentlich ganz anders wären. Warum und wann ist das so? Ein Interview.

 Die Anonymität nimmt Internetnutzern die Hemmung, andere Menschen zu beleidigen. Foto: Andrea Warnecke

Die Anonymität nimmt Internetnutzern die Hemmung, andere Menschen zu beleidigen. Foto: Andrea Warnecke

Falsche Verdächtigungen im Mordfall Lena vor fünf Jahren führten zu Diskussionen über Cyber-Mobbing und die heikle Rolle von sozialen Netzwerken. Im Interview nimmt der Stuttgarter Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Schweiger dazu Stellung:

Ist der Umgangston im Netz in den vergangenen Jahren rauer geworden?

Wolfgang Schweiger: Heute wie damals sinkt die Hemmschwelle im Netz mit der Anonymität der User. Häufig ist das auch eine Online-Pseudonymität: Bekannte Profile lassen sich nicht mehr realen Personen zuordnen. Andere Menschen wiederum pöbeln bei Facebook unter Klarnamen und mit Foto. Beleidigungen fallen umso leichter, wenn das Gesicht des Gegenübers fehlt, anders als in einem Gespräch.

Kommen Hasskommentare eher aus einer Gruppe heraus als von einem Einzelnen?

Schweiger: Häufig finden sich Betroffene, die sich untereinander nicht kennen, zu einer Gruppe im Netz zusammen. Das können besorgte Bürger oder Flüchtlingsgegner, aber auch andere sein. Dann treten Gruppennormen in den Vordergrund, und die Normen des Einzelnen geraten in den Hintergrund: Man passt sich immer mehr der Gruppe an. So verschmelzen etwa in Fußballstadien die Fans zu einer Masse. Wenn aber bei Online-Gruppen die Normen und Ziele fragwürdig werden, werden auch dort einzelne Menschen mitgerissen, die sich als Individuum eigentlich anders verhalten würden.

Ist dieses Verhalten besonders auffällig bei Verbrechen wie 2012 im Emder Mordfall Lena?

Schweiger: Verbrechen an Kindern werden immer wieder von Rechtsradikalen genutzt, um mit der öffentlichen Empörung für die Todesstrafe oder drastische Strafen zu werben. Dabei drohen auch Fake News, wie etwa die angebliche Entführung und Vergewaltigung einer 13-Jährigen in Berlin. Fake News zu identifizieren und letztlich auch zu verbieten, ist aber schwierig: Wer sollte das alles erfassen, wenn die Volksseele hochkocht und grenzwertige Formulierungen bis zum Lynch-Aufruf durchs Netz schwappen? Wir werden mit dem Problem noch lange leben müssen.

ZUR PERSON: Wolfgang Schweiger (49) studierte Kommunikationswissenschaft , Politik und Rechtswissenschaft an der Universität München. Seit 2013 ist er Professor für Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkten auf interaktive Medien- und Onlinekommunikation an der Universität Hohenheim.

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