Das Einhorn erobert das Internet

Saarbrücken · Um das Fabelwesen ist nicht nur in den sozialen Netzwerken ein regelrechter Kult entstanden.

"Weiße Schokolade mit Joghurt und Himbeer-Cassis-Regenbogen". Welche Zutat der Ritter-Sport-Schokolade den Online-Shop des Unternehmens im November vergangenen Jahres zusammenbrechen ließ, ist nicht mehr zu klären. Oder war es die pink-glitzernde Verpackung, auf dem das "fantastischste aller Fabelwesen" thront - das Einhorn?

Aus welchen Gründen auch immer - fest steht, dass Ritter Sport mit seiner Einhorn-Sonderedition einen unerwarteten Hit landete. Nachdem die Schokolade binnen weniger Stunden restlos ausverkauft war, verbreiteten sich die ersten Angebote auf Ebay und trieben die Preisempfehlung des Herstellers (1,99 Euro) um das Fünfzigfache in die Höhe. Viel Lärm um ein "Tier, das es nicht gibt" - wie schon Rainer Maria Rilke in einem berühmten Vers dichtete.

Die Schokolade ist längst nicht mehr das einzige Produkt, um das sich Einhorn-Liebhaber streiten. Sie war auch nicht das erste, die mit dem mystischen Tier wirbt: Seit zwei Jahren gibt es sogar Präservative zu kaufen, die, nach Angaben eines Berliner Start-Ups, vegan, nachhaltig und fair sein sollen. Die größte Aufmerksamkeit zieht allerdings der Name und das Design auf sich: Auf der Verpackung des Ökokondoms verspricht kein geringeres Wesen als das Einhorn "magischen" Spaß. Und wem das noch nicht genügt, der kann sich in Drogerien nach dem passenden Duschgel umsehen. Denn das soll immerhin nach "Sternchen und Wölkchen" duften.

Wer regelmäßig in den sozialen Netzwerken aktiv ist, der wird jedoch noch viel mehr entdecken und vor allem eines feststellen können: Dem großen deutschen Dichter würden zahlreiche Internetnutzer vehement widersprechen. Denn in der virtuellen Welt gibt es sie sehr wohl, die flauschigen Fabelwesen mit bunter Mähne, blauen Augen und dem mächtigen Horn auf der Stirn. Porträtiert werden sie gemeinhin jedoch etwas anders, als man es sich vielleicht vorstellt: Umgeben von Feenstaub und Sternen springen die pummeligen Tiere von Wolke zu Wolke und hinterlassen dabei einen glitzernden Regenbogen. Mittlerweile scheint es fast so, als sei das Einhorn nicht mehr in Märchenbüchern, sondern im Internet beheimatet.

Dieser Trend stößt nicht bei allen Nutzern auf Begeisterung. Kitschig, infantil und realitätsfremd werden jene genannt, die die Fabelwesen in Form von Emojis, lustigen Bildern und geistreichen Lebensweisheiten verbreiten. So zieren etwa Sprüche wie "Sei immer du selbst. Außer du kannst ein Einhorn sein. Dann sei ein Einhorn" die Profile zahlreicher Facebook-Nutzer. Unter dem englischen Wort Unicorn findet man rund vier Millionen Beiträge auf der Foto-Plattform Instagram. Bei dem sozialen Netzwerk Snapchat konnten sich Nutzer jüngst mit einem speziellen Filter sogar selbst in ein Einhorn verwandeln.

Die Einhorn-Skeptiker fragen: Was soll der Wirbel um das Einhorn und aus welchem Grund verehren viele Internetnutzer gerade dieses Fabelwesen und nicht beispielsweise eine Fee?

Seit der Antike werde das Einhorn als mythologische Figur mit Hoffnung gleichgesetzt und rücke immer dann in den Vordergrund, wenn die Realität unübersichtlich und gefährlich erscheint, erklärt Peter Wippermann, Trendforscher und Professor für Kommunikationsdesign an der Universität Essen. "In Krisensituationen sehnen sich Menschen nach einem positiven Sinnbild - nach etwas, das ein Happy End verspricht." So ermöglichte das Einhorn für einen kurzen Augenblick die Möglichkeit, in eine Fantasiewelt zu flüchten - fernab jeglicher Gefahren. Weiterhin schaffe das Symbol des Einhorns im Internet sofort eine Verbindung, eine Art Gemeinschaft unter all jenen, die ebendiese Sehnsuchtsvorstellung teilen. An dieser kindlichen Naivität habe nicht zuletzt die Filmindustrie Schuld: Im beliebten Zeichentrickfilm "Das letzte Einhorn", der in diesem Jahr sein 35. Jubiläum feiert und bei vielen Internetnutzern Kindheitserinnerungen auslöst, siege die Personifikation der Reinheit, das Einhorn, über die Gewalt und das Böse.

Dass die fantastischen Tiere, die mit Reichtum, Macht sowie Erfolg assoziiert werden, im Internet-Zeitalter besonders beliebt sind, zeigt auch der "Unicorn Club". Rund 180 Start-Ups stehen auf der Liste der milliardenschweren Unternehmen, darunter Snapchat und der Online-Übernachtungsdienst Airbnb.

Neu ist die Liebe zum Einhorn freilich nicht. In zahlreichen Werken der Literatur wird das Einhorn gewürdigt - beispielsweise in der griechischen Schrift Physiologus aus dem zweiten Jahrhundert: Wer sich das seltene Horn des Tieres sichert, so heißt es darin, könne sich gegen das Gift der Schlange schützen. In Hildegard von Bingens "Physica" aus dem Jahr 1155 hält hingegen ein Gürtel aus der Haut des Einhorns Pest und Fieber zurück. Und "Schuhe aus Einhornleder verleihen gesunde Füße, Unterschenkel und Gelenke." Wer wissen will, ob's stimmt, kann sich auch heute nach Einhorn-Hausschuhen umsehen. Die sind mittlerweile in vielen Internet-Versandhäusern erhältlich.

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