Gentests: Vom Fluch und Segen der Medizin

Wenn Mediziner bei einer Tumorerkrankung von einer "ungünstigen Prognose" sprechen, überbringen sie damit in der Regel eine schlimme Nachricht. Im Fall des Ovarialkarzinoms, wie im Medizinerdeutsch eine Krebserkrankung der Eierstöcke bezeichnet wird, ist das leider häufig der Fall.

Weil sich ein Tumor der Eierstöcke zu Beginn kaum bemerkbar macht, werden drei von vier Ovarialkarzinomen erst im fortgeschrittenen Stadium entdeckt, so die Deutsche Krebshilfe . Nur vier von zehn Patientinnen, das zeigt die Statistik des Robert-Koch-Instituts, der wichtigsten Einrichtung der Gesundheitsforschung in Deutschland, leben fünf Jahre nach der Diagnose noch.

In diesem Sommer wird nun in Europa ein Medikament in den Handel kommen, das die Chancen eines Teils der Patientinnen deutlich verbessern soll. Wobei Professor Wolfram Henn, Leiter der genetischen Beratungsstelle der Universitäts-Klinik des Saarlands in Homburg in diesem Satz zwei Vokabeln besonders betont: "eines Teils". Profitieren können vom Olaparib genannten Wirkstoff allein Frauen, deren Tumorgewebe typische Veränderungen - Mediziner sprechen von Mutationen - in den Genen BRCA-1 oder -2 zeigt. Doch der Gentest, der das klären soll, kann, falls er für eine Patientin diese positive Nachricht bringt, in ihrer Verwandtschaft einen Schock auslösen. Der Arzt, der zum Beispiel einer 60-jährigen Frau eröffnet, dass sie von der neuen Behandlungsoption profitieren kann, unterrichtet sie damit gleichzeitig darüber, dass in ihrer Familie das Risiko für erblichen Brust- und Eierstockkrebs möglicherweise stark erhöht ist.

BRCA-1 und -2 sind die bekanntesten Hochrisiko-Gene der erblichen Form des Brust- und des Eierstockkrebses. Hat ein Elternteil eine mutierte Form eines BRCA-Gens in seinen Körperzellen, beträgt die Wahrscheinlichkeit eines Kindes, diese Genveränderung zu erben, 50 Prozent. Der Gentest weist auf diese Möglichkeit hin - nicht mehr und nicht weniger. Die Patientin kann die Mutation von ihren Eltern ererbt haben, dann ist sie erblich - sie kann aber auch erst in den Krebszellen entstanden sein, dann kann sie nicht weitergegeben werden. Diesen komplizierten Sachverhalt muss der Arzt vor dem Test erläutert haben, damit die Patientin und ihre Familie sein Ergebnis richtig interpretieren können und auch vorher wissen, was für sie dabei auf dem Spiel steht, so Wolfram Henn.

Das Beispiel zeigt, wie viel Sensibilität und Mitgefühl im Umgang mit den modernen Errungenschaften der Humangenetik vonnöten ist. Ein Thema, bei dem der grundsätzlich optimistisch gestimmte Genetiker der Saar-Universität ("Wir können viel Gutes mit dieser Technologie tun") ins Grübeln gerät. Denn er sieht das Risiko eines "technologischen Dammbruchs" bei den Verfahren der Genanalyse und die Gefahr, dass schon in nächster Zukunft eine Flut missverständlicher genetischer Informationen über ein völlig unvorbereitetes Publikum hereinbricht.

Die erste Komplettanalyse des menschlichen Erbguts begann im Jahr 1990. Rund 1000 Forscher arbeiteten über eineinhalb Jahrzehnte an diesem Milliardenprojekt. Heute kostet ein Gentest, der auf Mutationen in den BRCA-Genen zielt, unter 5000 Euro. Das Ergebnis liegt binnen weniger Wochen vor, so Wolfram Henn. Dabei gehört dieser Test, der bei Risikopatienten von den Krankenkassen bezahlt wird, längst zum alten Eisen. Es gibt unter dem Stichwort "Next Generation Sequencing" mittlerweile Verfahren (Multi-Gen-Panels), die fürs gleiche Geld bis zu 100 Gene analysieren - häufig allerdings mit unklaren und damit beunruhigenden Ergebnissen.

Technisch, so der Professor der Saar-Universität, ist es auch kein Problem mehr, das komplette Exom eines Menschen - das ist der kleine Teil des Erbguts, den die Körperzellen für die Produktion von Proteinen nutzen - auf einen Rutsch zu analysieren. Den absehbaren Endpunkt der Entwicklung, so Wolfram Henn, bilden schließlich Nano-Verfahren, die das vollständige Erbmaterial eines Menschen in einem Gerät von der Größe eines Smartphones für 100 Euro aufzeichnen. Gibt's Genanalysen demnächst vom Biotech-Discounter an der Ecke mit Mengenrabatt? Dem Humangenetiker graut es vor den sich abzeichnenden rechtlichen Problemen mit der neuen Technik. "Der größte Anbieter von Multi-Gen-Panels sitzt heute in China. Wie sollen da die strengen Standards des deutschen Datenschutzes durchgesetzt werden", fragt der stellvertretende Vorsitzende der Ethikkommission der Bundesärztekammer .

Zusätzlich gibt es eine Reihe medizinischer Fragen, die den Professor der Saar-Universität umtreiben. Die Forschung könne schon heute mit dem Tempo der technologischen Entwicklung kaum mehr Schritt halten. "Früher", so der Genetiker Wolfram Henn, "hatten wir tausend Fragen, bekamen aber nur wenige Antworten. Heute bekommen wir tausende Antworten und müssen uns dazu die passenden Fragen überlegen." Allein bei den beiden wichtigsten BRCA-Genen seien mittlerweile mehrere tausend Veränderungen in medizinischen Datenbanken erfasst, von denen viele, aber eben längst nicht alle als mutmaßliches oder manifestes Krebsrisiko eingestuft seien. Bei einer ganzen Reihe sei schlicht noch nicht geklärt, ob es sich um eine harmlose genetische Abweichung oder um eine krankmachende Mutation handelt. Und der Patient? Für ihn ist eine Gen-Analyse ohne kundigen Kommentar eines Fachmanns nichts wert, so Wolfram Henn, der zu den entschiedenen Kritikern von Internetanbietern gehört, die derartige Dienstleistungen online offerieren. "Der Aufwand für die Interpretation genetischer Informationen wird immer größer." Das Ergebnis einer Analyse bestehe eben nicht aus der Auflistung klarer Fakten und Ratschläge - sondern aus medizinischer Mathematik, die individuell interpretiert werden muss. Es enthält Beschreibungen von Gesundheitsproblemen, die einem Patienten in Zukunft drohen. Oder drohen könnten. Was ist die angemessene Reaktion auf die Nachricht, dass ein Mensch zu einer Hochrisikogruppe gehört und nach dem heutigen Stand des medizinischen Wissens mit 75 Prozent Wahrscheinlichkeit vor seinem 80. Lebensjahr an Krebs erkranken wird? Wolfram Henn: "Da kommt es auf so viele persönliche Faktoren an. Eine einfache Antwort auf diese Frage kann es nicht geben. Sie könnten es zum Beispiel ja auch so betrachten: Mit 25 Prozent Wahrscheinlichkeit erkrankt dieser Mensch eben nicht."

Der deutsche Ethikrat schlägt nun in einer Stellungnahme zur Gendiagnostik aus dem Jahr 2013 einen speziellen medizinischen Tätigkeitsschwerpunkt vor. Sogenannte Gen-Berater sollten Patienten nach dem neuesten Stand des Wissens über die Ergebnisse und über die möglichen Konsequenzen von Erbgut-Analysen informieren. Dies, so das Beratergremium von Bundesregierung und Bundestag, könne "von Haus- oder Fachärzten gegebenenfalls nicht mehr ohne Weiteres erwartet werden".

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