Was Studenten lesen, während ihre Dozenten forschen

Saarbrücken · Eine Ringvorlesung der Saar-Uni bespricht die Lieblingsbücher von Nachwuchsakademikern.

Wenn Literaturwissenschaftler sich über die Texte unterhalten, die jeder Student kennen sollte, sprechen sie vom Kanon. Die wörtliche Bedeutung dieses Ausdrucks ist Rohrstock. Er soll den Maßstab dessen abgeben, was als verbindliches Fachwissen gilt. Bei manchem mag der Begriff aber noch ganz andere Assoziationen wecken: dass die Kenntnisse der Klassiker in den Nachwuchs hineingeprügelt werden müssen.

Daniel Kazmaier will einen anderen Weg gehen. Der junge Dozent für frankophone Germanistik an der Universität des Saarlandes hat für das Sommersemester eine Ringvorlesung organisiert, bei der Studenten das Programm bestimmen. Sie schlagen ihre Lieblingsbücher vor, Dozenten der Saar-Uni analysieren sie mit wissenschaftlichen Methoden und präsentieren die Ergebnisse in einer Vortragsreihe mit dem Titel "Wir lesen, was Sie lesen" (siehe Infokasten).

Kazmaier wollte etwas außerhalb des normalen Lehrbetriebs machen, auch um die Studenten besser zu erreichen. Dafür beteiligte er sie einfach an der Textauswahl. "Ich fand den Gedanken gut, dass man als Dozent nicht alles in der Hand hat", sagt Kazmaier. Gemeinsam mit der Fachschaft der Germanistik leitete er ein Verfahren in die Wege, bei dem Studenten zunächst Vorschläge einreichen konnten, über die dann abgestimmt wurde. Einzige Bedingung war, dass es sich um deutsche Texte handelte - der omnipräsente Harry Potter war also von Anfang an ausgeschlossen.

52 Vorschläge sind insgesamt zusammengekommen, zwölf Titel sind für die angesetzten Termine der Ringvorlesung ausgewählt worden. Am meisten Stimmen erhielt ein Buch, das inzwischen selbst eine Art Klassiker ist, allerdings für Kinderbücher: Michael Endes "Momo". Mit dabei ist etwa auch "Die dreizehneinhalb Leben des Käpt'n Blaubär" von Walter Moers, aber auch Standardwerke wie Goethes "Faust" und Kafkas "Der Prozess".

Am Kanon wird oft kritisiert, dass darin vor allem die Texte von Männern zu finden seien. Auf der Liste der Studenten ist allerdings sogar keine einzige Frau zu finden. Dabei stammen einige der erfolgreichsten Bücher der vergangenen Jahre von weiblichen Autoren. Sarah Kuttners "Mängelexemplar" etwa und vor allem Charlotte Roches "Feuchtgebiete", ein Buch, das vor allem durch explizite Schilderungen von sich reden machte. "Die Liste ist wohl eine Art Hybrid", sagt Kazmaier dazu. "Ich vermute, manche haben sich nicht ganz getraut, das auszusuchen, was sie wirklich lesen." Sie hätten aber durchaus keine Hemmungen haben müssen. "Es sollte hauptsächlich um den Spaß gehen", sagt der Dozent.

Texte von Christian Kracht und Wolfgang Herrndorf, die ebenfalls vertreten sind, gehören heute hingegen sogar zum Schulkanon. Die Aufnahme von Krachts "Faserland" hatte unter Philologen noch für reichlich Wirbel gesorgt. Der durch die Popkultur beeinflusste Text galt als oberflächlich und unliterarisch. An der Saar-Uni befasst sich nun ein echter Experte mit Krachts Text "Imperium": Johannes Birgfeld hat den ersten wissenschaftlichen Sammelband zu dem scheuen Schweizer Autor herausgegeben.

Doch besteht nicht die Gefahr, dass durch die wissenschaftliche Analyse der Spaß an den Büchern kaputtgeht? Private Lektüre zeichnet sich schließlich häufig durch einen direkten und persönlichen Zugang zu den Texten aus. "In meinen Augen schließt sich das nicht gegenseitig aus", sagt Kazmaier. Das Bewusstsein könne den Genuss sogar steigern. "Man ist hingerissen und weiß genau, warum. Dieses Selbstreflexive ist auch eigentlich der Witz an guter Literatur." An die Literaturwissenschaft hat er den Anspruch, dass sie gut formuliert sein muss und nicht langweilen darf.

Für die anstehende Ringvorlesung gilt das ganz besonders. Und auch die Studenten erwarten sich eine unterhaltsame Präsentation, wie Wiebke Lehnert von der Germanistik-Fachschaft deutlich macht. "Ich habe die Hoffnung, dass die Texte - vor allem die bekannten wie "Faust" und "Der Prozess" - auf etwas andere Weise besprochen werden."

Auf der Liste der Vorschläge vertreten, aber nicht in der Endauswahl war übrigens auch Johannes Kühn aus Hasborn, so etwas wie ein saarländischer Nationaldichter. "Schade, dass er nicht dabei ist", bedauert Kazmaier, der selbst aus Stuttgart stammt. "Ich hätte es charmant gefunden, so etwas Regionales zu machen."

Vielleicht wäre das ja eine Idee für ein künftiges Seminar. Er müsste nur den Studenten wieder das Mitspracherecht entziehen.

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Die Vorlesungsreihe "Wir lesen, was Sie lesen" an der Universität des Saarlandes befasst sich in dreizehn Sitzungen mit den Lieblingsbüchern saarländischer Studenten. Die Ringvorlesung steht jedem offen. Die Vorlesungen werden jeden Donnerstag um 14 Uhr auf dem Saarbrücker Campus gehalten, in Gebäude B3 1, Hörsaal 1 (Raum 0.14). Das Programm gibt's im Internet. Los geht es diese Woche mit dem Einführungsvortrag "Wilde Reise durchs Semester" von Organisator Daniel Kazmaier. www.uni-saarland.de/fachrichtung/germanistik/ ringvorlesungen.html

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