Stromrabatte vor dem Aus

Brüssel. Die deutsche Energiepolitik hat gestern einen empfindlichen Rückschlag erlitten. Das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf kippte die bisherige Befreiung der energieintensiven Industrie von den Netzkosten und nannte sie einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz

Brüssel. Die deutsche Energiepolitik hat gestern einen empfindlichen Rückschlag erlitten. Das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf kippte die bisherige Befreiung der energieintensiven Industrie von den Netzkosten und nannte sie einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. In Brüssel kündigte die EU-Kommission gleichzeitig an, sie wolle prüfen, ob die Verordnung vom August 2011 gegen europäische Wettbewerbsregeln verstoße.Mit den Netzentgelten zahlen Strom-Abnehmer den Transport der Energie vom Produzenten bis zur eigenen Steckdose. Seit 2011 können sich Großkunden, die jährlich mindestens 7000 Stunden am Netz hängen und mindestens zehn Gigawattstunden verbrauchen, von den Gebühren befreien lassen - zu Lasten normaler Bürger und Kleinunternehmen. Denn zur Kompensation der Kosten müssen alle anderen eine Sonderabgabe in Höhe von 0,329 Cent je Kilowattstunde (kWh) zahlen.

Berechnungen haben ergeben, dass bei einem Verbrauch von 3500 kWh im Jahr immerhin 11,50 Euro zusammenkommen. 202 stromintensive Betriebe haben diese Befreiung bisher beantragt und somit einen Vorteil von rund 300 Millionen Euro für 2011 herausgeschlagen. Aber dabei wird es nicht bleiben. 2012 dürften es schon 440 Millionen Euro für 328 Großabnehmer sein, für das laufende Jahr rechnet die Bundesnetzagentur sogar mit 805 Millionen Euro, um die die Industrie entlastet wird.

Der Vorsitzende Richter des 3. Kartellsenats des OLG Düsseldorf, Wiegand Laubenstein, bezeichnete die Verordnung gestern als verfassungswidrig und nichtig. Eine vollständige Befreiung von den Netzentgelten sei auch aus Gleichheitsgründen nicht zulässig, sagte er. Allerdings ist der Beschluss noch nicht rechtskräftig. Fünf regionale und überregionale Netzbetreiber hatten gegen die Regelung geklagt. Eine unerlaubte staatliche Beihilfe liege allerdings nicht vor, sagte Laubenstein, "weil der Umlagemechanismus privatrechtlich ausgestaltet wurde".

Ob sich die EU-Kommission dieser Auffassung anschließen wird, ist ungewiss. Im förmlichen Prüfverfahren, das eingeleitet wurde, geht es vor allem um die Frage, ob der Vorteil, der den Stromfressern unter den deutschen Unternehmen entstanden ist, als nicht genehmigte Beihilfe gewertet wird und Wettbewerbsverzerrungen bewirkt. Sollte dies der Fall sein, müssten eventuelle Abschläge nachträglich entrichtet werden. Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) verwies nach den Entscheidungen auf die laufende Reform der Netzentgelt-Regelungen. Er wolle aber daran festhalten, "auch künftig ein ausgewogenes Lastenmanagement durch eine kontinuierliche Stromabnahme zu belohnen", so Rösler. dr

Meinung

Zuverlässigkeit gefragt

Von SZ-RedakteurJoachim Wollschläger

Sollte die Befreiung von den Netzentgelten kassiert werden, wäre das wirtschaftlich nicht dramatisch. Kritischer ist dagegen, dass die energiepolitischen Regelungen immer kürzere Halbwertszeiten haben und zu oft mit heißer Nadel gestrickt sind.

Wenn Unternehmen aber keine Investitionssicherheit mehr haben, weil zugesagte Befreiungen wieder zurückgenommen oder Vergütungs-Bedingungen nachträglich geändert werden, wird bei der Wirtschaft mittelfristig keine Bereitschaft mehr da sein, die Energiewende zu unterstützen. Deshalb sind jetzt klare und tragfähige Konzepte für die nächsten Schritte der Energiewende gefragt - keine Wahlkampf-Seifenblasen.

Hintergrund

Im Saarland ist nur der Industrie-Gase-Hersteller Praxair von den Netzentgelten befreit. Die saarländische Stahlindustrie erfüllt wider erwarten die Voraussetzungen für eine Befreiung trotz des hohen Stromverbrauchs nicht. Für eine Befreiung von den Netzentgelten müssen Unternehmen mindestens zehn Gigawattstunden Strom verbrauchen, das entspricht etwa dem Verbrauch von 3000 Haushalten, sowie 7000 Stunden pro Jahr Strom abnehmen. Die Stundenzahl erreichen die Stahlunternehmen nicht. jwo

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