Welche Schule passt zu Henri?

Walldorf · Körperlich behinderte Kinder am Gymnasium sind keine Seltenheit mehr. Aber was ist mit geistig Behinderten, die das Abitur vermutlich nie schaffen können? Hier scheiden sich die Geister. Das zeigt ein Fall aus Baden-Württemberg.

Herr Kessler, sollen Kinder mit einer geistigen Behinderung aufs Gymnasium gehen können?

Klaus Kessler: Sicher - wenn die Eltern dies wünschen. Das muss nicht der Regelfall sein. Aber es ist nicht einzusehen, dass Gymnasien von der Inklusion ausgeschlossen werden. Die UN-Behindertenrechtskonvention lässt das auch gar nicht zu.

Aber ist es auch realistisch, dass ein Kind mit Down-Syndrom ein Gymnasium besucht?

Kessler: Das ist möglich, wenn die Schule sagt, dass sie das leisten kann. Auch braucht das Kind Unterstützung von einem Sonderpädagogen. Es kommt also auf die Rahmenbedingungen an.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Kessler: Wenn eine fünfte Klasse am Gymnasium 30 Schüler hat, und dann noch ein behindertes Kind dazukommt, sind das keine Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Inklusion. Da ist eine Klasse an einer Gemeinschaftsschule mit 17 Kindern die bessere Alternative. Das muss man den Eltern sagen. Wenn die dann darauf bestehen, dann muss man dem Elternwahlrecht Rechnung tragen. Aber ich glaube nicht, dass sich Eltern so entscheiden. Insgesamt gilt: Es muss immer ein vernünftiges Verhältnis geben zwischen den Unterrichtsbedingungen und dem, was die Eltern wollen.

Wenn ein Kind mit Down-Syndrom aufs Gymnasium geht, ist das dann noch ein Gymnasium im eigentlichen Sinne?

Kessler: Das ist eine Frage der Definition. Im Gesetz steht, dass das Gymnasium eine erweiterte und vertiefte allgemeine Bildung vermittelt mit dem Ziel des Abiturs. Ein Gymnasium kann sich also auf den Standpunkt stellen, den Bildungsauftrag nicht erfüllen zu können und eine Beschulung ablehnen. Ich möchte die Gymnasien aber nicht aus der Verantwortung entlassen, auch schwächere Kinder zu einem ihnen angemessenen Abschluss zu bringen - statt sie immer bloß wegzuschicken.

Es gibt doch immer schwächere und leistungsstärkere Kinder - deshalb gibt es doch auch das gegliederte Schulsystem, oder?

Kessler: Das ist in der Tat ein Dilemma. Das gegliederte Schulsystem widerspricht eigentlich der Intention der UN-Konvention. Dem Inklusionsgedanken würde nur eine Schulform für alle gerecht.

Wie beurteilen Sie die Inklusion im Saarland?

Kessler: Bei der Integration von behinderten Kindern sind wir bundesweit in der Spitzengruppe. Schaut man sich aber an, was andere Länder gemacht haben in Sachen Inklusionsgesetzgebung, dann hinken wir hinterher. Es ist höchste Zeit, dass das Saarland eine saubere Rechtsgrundlage schafft. Das hat der Minister ein bisschen verschlafen.

Er spricht von der "Jahrhundertaufgabe" Inklusion.

Kessler: Das verschafft einem Politiker in zeitlicher Hinsicht natürlich immer jede Menge Luft. Dass die Inklusion an weiterführenden Schulen erst 2016 kommen soll, halte ich für falsch. Das hätte ein Jahr früher passieren können, wie es geplant war. Aus meiner Sicht sollte der Minister jetzt zumindest schon im neuen Schuljahr den Schulversuch Inklusion ausweiten und auch Gymnasien einbeziehen.

Mit dem Schlagwort Inklusion sind viele Ängste verbunden. Können Sie die verstehen?

Kessler: Ich weiß, dass manche Eltern fürchten, dass ihr leistungsstarkes Kind gebremst wird. Aber es gibt keine Belege dafür, dass leistungsstarke Kinder unter der gemeinsamen Beschulung leiden. Im Gegenteil haben sie in sozialer Hinsicht sogar Vorteile. Vorausgesetzt, die Personalausstattung stimmt. Niemand braucht vor der Inklusion Angst zu haben, sie wird in der Schule zu einer Bereicherung der Lernkultur führen - allerdings wird sie das Lehren und Lernen nachhaltig verändern.

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