Syriens Palästinenser werden zur Zielscheibe

Kairo. Yarmouk am Südrand der syrischen Hauptstadt Damaskus, gleicht einem elenden Arbeiterviertel. Riesige Wohnblocks, durch enge Straßenzüge getrennt, reihen sich aneinander

Kairo. Yarmouk am Südrand der syrischen Hauptstadt Damaskus, gleicht einem elenden Arbeiterviertel. Riesige Wohnblocks, durch enge Straßenzüge getrennt, reihen sich aneinander. 150 000 Palästinenser leben hier, fast ein Drittel der gesamten Flüchtlingsgemeinde, die Syrien seit Jahrzehnten beherbergt und deren Schicksal - ein wenig auch deren Wohl - offiziell zum zentralen Anliegen der Herrschaft der beiden Assads - des Vaters, wie des Sohnes - zählte. Durch den Einsatz für die Rechte der Palästinenser gewann Hafez al-Assad einst die bedeutende geostrategische Rolle für sein kleines Land.Seit Beginn der Rebellion gegen Baschar al-Assad vor 17 Monaten bemühten sich die Palästinenser um Neutralität. Doch nun werden sie mehr und mehr in den Krieg hineingezogen. Auch Yarmouk ist, wie andere Teile Syriens, von Tod und Zerstörung gezeichnet. Zuletzt starben Anfang August 20 Palästinenser im Kugelhagel, vermutlich von Rebellen verfolgenden syrischen Streitkräften abgefeuert. Ängstlich besorgt, nicht auch noch die Palästinenser gegen sich aufzubringen, hatte das Regime allerdings rasch "kriminelle Elemente" für das Massaker verantwortlich gemacht. In der Nähe stationierte Rebellen suchen vor oder nach Attacken gegen Regierungssoldaten immer wieder unter den Palästinensern Schutz - eine Praxis, die der zunehmend in die Enge getriebene Diktator nicht länger dulden will.

Syriens Palästinenser "bleiben strikt neutral" in diesem Krieg, sagte Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und bekräftigte damit erneut die Strategie, an der diverse Fraktionsführer in Syrien verzweifelt seit Monaten festzuhalten suchen. Doch die überwiegend älteren Funktionäre haben längst den Bezug vor allem zur jüngeren Flüchtlingsgeneration verloren. Unter diesen Jungen wachsen mit jedem Gewaltakt gegen ihre Gemeinde die Solidaritätsgefühle mit ihren um Freiheit, Demokratie und ein Ende der Unterdrückung kämpfenden syrischen Altersgenossen.

Der Großteil der im ganzen Land zerstreuten Palästinenser - rund 500 000 - sind Flüchtlinge und deren Nachkommen aus dem ersten Krieg gegen Israel 1948, die anderen fanden nach anderen Kriegen hier Aufnahme. Wie in anderen arabischen Ländern erhielten sie auch in Syrien keine Staatsbürgerschaft, doch sie genießen weit mehr Rechte. Alle Arbeitsplätze, sogar in der Regierung, stehen ihnen offen, sie können kostenlos studieren und sogar die Militärlaufbahn ergreifen. Doch die Enttäuschung über Vater und Sohn Assad, die die Palästinenserfrage primär für eigene, national-syrische Interessen missbrauchten und nichts unternahmen, um die Flüchtlinge dem ersehnten eigenen Staat näher zu bringen, hat vor allem unter jüngeren Palästinensern das Gefühl der Dankbarkeit gegenüber den Assads verdrängt. Denn die Politik des Regimes gegenüber den Flüchtlingen war stets von nationalem Eigeninteresse geprägt. Immer wieder heizte Damaskus interne palästinensische Konflikte an und schmiedete Komplotte zur Ermordung von Palästinenserführern, die seinen Interessen zuwiderhandelten.

Auch jetzt bleiben Flüchtlingen Repressionen des Staates nicht erspart. Einen Tag nach dem Massaker in Yarmouk verschleppten syrische Sicherheitskräfte verwundete Palästinenser aus einem Krankenhaus. Seither fehlt von ihnen - wie von zahllosen Syrern seit 17 Monaten - jede Spur. An die 300 Palästinenser dürften nach Schätzungen seit Beginn der Rebellion ums Leben gekommen sein. In syrischen Gefängnissen schmachten unzählige Palästinenser. "Wir sind Waisen", klagt ein eben Freigelassener. "Niemand bemerkt, ob wir gefangen genommen oder freigelassen werden." Und als Staatenlose fühlen sie sich grenzenlos verwundbar, werden sie voll in den Krieg hineingezogen, finden sie kein Land, das ihnen Schutz bietet. Die Ankündigung der Führung der "Freien syrischen Armee", Palästinenser auf syrischem Boden, die auf der Seite des Regimes stünden, seien "legitime Ziele", lässt Schlimmes für die Zukunft befürchten.

Hintergrund

Der algerische Krisendiplomat Lakhdar Brahimi ist als möglicher Nachfolger des scheidenden Syrien-Vermittlers Kofi Annan im Gespräch. Der 78-jährige ehemalige algerische Außenminister habe "gute Chancen", den Auftrag im Namen der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga zu erhalten, sagte ein westlicher Diplomat am Freitag. Brahimi war als UN-Sondergesandter unter anderen in Afghanistan und im Irak tätig.

Nach Aktivisten-Angaben wurden am Freitag in ganz Syrien mindestens 84 Menschen getötet, davon 45 in Aleppo. Seit Beginn der Proteste gegen das Assad-Regime vor 17 Monaten kamen nach UN-Schätzungen etwa 17 000 Menschen ums Leben, die meisten Zivilisten. Die Zahl der Vertriebenen liegt laut UN bei 1,5 Millionen Syrern. dpa

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