Schlangestehen gegen die größten Schmerzen

Harriman. Brenda Amogene (53) versucht, den Regen zu ignorieren, der an ihrem blauen Plastiküberwurf herunterperlt. "Es gibt Schlimmeres", sagt Amogene, die bereits seit drei Uhr in der Früh mit ihrer Mutter Peggy (79), die im Rollstuhl sitzt, und Schwägerin Peggy Hooks (50) vor einer Schule in Harriman ausharrt

Harriman. Brenda Amogene (53) versucht, den Regen zu ignorieren, der an ihrem blauen Plastiküberwurf herunterperlt. "Es gibt Schlimmeres", sagt Amogene, die bereits seit drei Uhr in der Früh mit ihrer Mutter Peggy (79), die im Rollstuhl sitzt, und Schwägerin Peggy Hooks (50) vor einer Schule in Harriman ausharrt. Hier in der tiefsten Provinz von Tennessee, zwei Stunden östlich der Hauptstadt Nashville, bietet "Remote Area Medical" (RAM) über das Wochenende kostenlos ihre Dienste an. RAM ist eine Freiwilligenorganisation, die Menschen hilft, die sich keinen Arzt leisten können.

Brenda Amogene gehört dazu. Die Behindertenrente ihres Mannes von genau 1022 US-Dollar (rund 700 Euro) reicht auch im ländlichen Amerika nur für das Nötigste. Dazuverdienen kann sie nicht mehr, seit Sam ganz auf ihre Hilfe angewiesen ist. "Wer kümmert sich sonst um ihn?", fragt die Frau, die drei Kinder großgezogen hat und früher Putzen ging. Immerhin erhält ihr Ehemann bescheidene Leistungen aus der staatlichen Medicare-Versicherung für Rentner. Wenn er zum Doktor geht, gibt sie ihm eine Tabelle mit ihren Werten mit, die sie am kostenlosen Blutdruckmesser des lokalen Supermarkts regelmäßig misst. "So bekomme ich meine Rezepte", verrät sie.

Wer zuerst kommt . . .

Schwägerin Peggy Hooks macht es so ähnlich, weil sie mit Diabetes und Herzproblemen niemand mehr versichert. 900 Dollar Prämie für eine Police, die alle Vorerkrankungen ausschließt, ist für die Frau, die ihr Leben lang zwei Jobs gehabt hat - als Pflegerin und an der Rezeption eines Krankenhauses - illusorisch. Die fern verschriebenen Medikamente nimmt sie reihum und dann jeweils nur die Hälfte der Dosis.

"Sie müssen lernen zu improvisieren", pflichtet Brenda Amogene bei. Sie hat ihrem Sam schon drei Zähne selber gezogen, weil die staatliche Medicare-Versicherung das nicht bezahlt. Weshalb sie sich an dem endlosen Warten im lauwarmen Regen auf die eigene Zahnbehandlung nicht wirklich stört. Zumal ihr der praktische Arzt, der sie am Morgen in der RAM-Klinik wegen ihrer Bronchitis behandelte, kostenlose Antibiotika verschrieb. "Die helfen", gibt sich die 53-Jährige gelassen, die nun mit ihren Begleiterinnen bis zum nächsten Morgen ausharren will. Dann stehen sie wieder in der Schlange, um andere Leiden behandelt zu bekommen - wie die rund 700 Menschen, die bis zu 500 Kilometer weit anreisten, um sich kostenlos einen Zahn ziehen zu lassen, eine Brille verschrieben zu bekommen oder einen Allgemein-Mediziner zu sehen.

Der Andrang in den Stunden vor Sonnenaufgang ist so groß, dass die Nationalgarde für Ordnung sorgt. Die freiwilligen Helfer von "Remote Area Medical" geben Nummern aus, um Chaos in der Klinik zu vermeiden. "Wir stellen keine Fragen und verlangen keine finanziellen Informationen", beschreibt Stan Brock die Arbeitsweise der Organisation, die er vor 25 Jahren gründete: "Wer zuerst kommt, wird zuerst bedient." Ursprünglich wollte der Cowboy, Lebenskünstler und Wohltäter Menschen in entlegenen Gebieten der Dritten Welt helfen. Mit inzwischen fast 47 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung in den USA und sehr vielen Millionen mehr, deren Versicherung den Besuch beim Zahn- oder Augenarzt nicht abdeckt, haben Brock und seine Helfer heute mehr in den USA zu tun als im Regenwald am Amazonas, wo alles einmal anfing. 60 Prozent der Nothilfe leistet die Organisation in den vergessenen Regionen des reichsten Landes der Welt.

Für Schlagzeilen sorgte RAM kürzlich, als die freie Klinik erstmals am Rande von Los Angeles ihre Hilfe anbot. In acht Tagen behandelten die Ärzte rund 6000 Patienten. "Mit mehr Freiwilligen hätten wir 12 000 helfen können", meint Sprecher Ron Brewer, der in den letzten Monaten einen Anstieg der Zahl der Hilfesuchenden registrierte. Für Harriman am Fuße der Appalachen mobilisierte Brewer 22 Zahnärzte, ein halbes Dutzend Augenärzte, drei Allgemeinmediziner, einen Frauenarzt und Medizinstudenten von drei Universitäten.

Im Foyer der Schule geht es wie in der Bahnhofswartehalle zu. Hinter mobilen Trennwänden arbeiten die Ärzte und Helfer unter Hochdruck, um möglichst viele Patienten behandeln zu können. Duncan Johnson aus Knoxville hat bereits 22 Mal zu Spritze, Bohrer und steriler Zange gegriffen, bevor Jason Thompson (25) auf dem gespendeten Zahnarztsessel Platz nimmt. "Was kann ich für Sie tun", fragt er den arbeitslosen Mann, der seit Wochen vor Schmerzen kein Auge zukriegt. "Meine unteren Weisheitszähne haben sich entzündet", erzählt Jason, dem der kalte Schweiß auf der Stirn steht. Doktor Johnson zögert einen Moment. "Ich habe keine Röntgenaufnahmen", gibt er zu bedenken, "das ist ein schwerer Eingriff." Dann schlägt er einen Kompromiss vor. "Welcher Zahn schmerzt mehr - der linke oder der rechte?" Jason entscheidet sich für den Linken. Nach der improvisierten OP mit Stehlampe, nimmt er sich vor, am Sonntag noch einmal sein Glück zu versuchen: "Vielleicht nimmt mir jemand auch den rechten Weisheitszahn raus."

Neun verfaulte Zähne

Der indische Zahnarzt Dr. Patel, ein RAM-Veteran, lacht bei der Frage nach Zahn-Ersatz. "Die meisten müssen lernen, ohne Zähne zu leben", beschreibt er die nüchterne Realität in Harriman. Ein Schicksal, das auch Rob Kopp erwartet, der sein Zelt gleich neben dem "Porta Potty" (dem mobilen Klo) vor der Schule aufgeschlagen hat. Wie viele andere, die das Wochenende über hier campieren, um rechtzeitig für die Nummernausgabe anzustehen. Dem arbeitslosen Koch rupft Dr. Patel gleich neun verfaulte Zähne heraus. Auf die Frage, warum er so lange gewartet hat, greift Kopp - den Mund mit Watte vollgestopft - zu einem Blatt Papier. "In meiner Heimatstadt kann ich nur einen Zahn gezogen bekommen und nur, wenn er einen Abszess hat", schreibt der Mann, der aus dem drei Stunden entfernten Weaverville in North Carolina anreiste.

Brenda Amogene, Mutter und Schwägerin hatten es etwas näher. Von ihrem Dorf am Fuße der Appalachen dauert es eine gute Stunde nach Harriman. Doch hin- und herzufahren kommt für die drei nicht in Frage. Keinesfalls wollen sie ihren Platz für die Zahnbehandlung am nächsten Tag riskieren. Zudem sei die Fahrt zu teuer, sagt Peggy Hooks. Dass die Politik in Washington ihnen eine Krankenversicherung bescheren könnte, wagen sie nicht zu glauben. "Vorher werden noch viele Leute sterben, weil sie keine haben", meint Brenda Amogene, während aus der grauen Wolkendecke über Tennessee ein kräftiger Schauer niedergeht.

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