Keine Gnade für den Kabeljau

Noddy Bay/Neufundland. Die "Cape Freels Cruiser" ächzt und bockt. Ihr Bug steckt auf der Holzrampe fest. Fischer Hubert Hedderson läuft um sein Boot herum, richtet die daran befestigten Taue neu, schüttelt den Kopf. Der Schneepflug, der das Boot aus dem Wasser an Land ziehen soll, legt erneut den Rückwärtsgang ein. Der Motor brüllt auf, die angespannten Taue zittern. Nichts

Noddy Bay/Neufundland. Die "Cape Freels Cruiser" ächzt und bockt. Ihr Bug steckt auf der Holzrampe fest. Fischer Hubert Hedderson läuft um sein Boot herum, richtet die daran befestigten Taue neu, schüttelt den Kopf. Der Schneepflug, der das Boot aus dem Wasser an Land ziehen soll, legt erneut den Rückwärtsgang ein. Der Motor brüllt auf, die angespannten Taue zittern. Nichts. Der Schiffsbug bohrt sich nur tiefer ins morsche Holz der Rampe, das längst hätte ersetzt werden sollen, aber dafür fehlt das Geld. Es ist, als wolle der alte Fischerkahn die Küstengewässer an der Nordspitze der kanadischen Provinz Neufundland nicht verlassen. Hedderson schickt den Schneepflug nach Hause, er will es wieder versuchen, wenn das Wasser in der Bucht steigt und sein Schiff anhebt.

Mit gesenktem Kopf läuft er auf sein kleines wettergegerbtes Holzhaus zu. Es ist kein gutes Jahr für die Fischer in dem Weiler Noddy Bay. Und das vorangegangene war nicht besser. Jedes Jahr kämpft der 47-jährige Hubert Hedderson um ein ausreichendes Einkommen, seit der Kabeljau im Nordatlantik durch Überfischen fast ausgerottet wurde. Eine ökologische Katastrophe in einer der einst dichtesten Fischpopulationen, deren Ausmaß Regierungen, Fischer und Ressourcen-Verwalter rund um den Globus erschreckte. Rund 40 000 Menschen verloren ihre Arbeit in Neufundland, einer Insel, die eineinhalbmal so groß wie Bayern ist. Und der dezimierte Kabeljau ist immer noch nicht sicher vor dem Hunger der internationalen Fischerflotten.

Hubert Hedderson ist entsetzt. Er sitzt im Erdgeschoss seines Hauses vor dem Radio und hört die Fischer-Nachrichten. Überall hängen Poster von Fischen: Makrelen, Schwarzer Heilbutt, Hering, Seehasen. Aber es ist der Kabeljau, an dem die Herzen der Neufundländer hängen, in einer fast irrationalen Weise. Jetzt muss Hedderson im Rundfunk erfahren, dass die internationale Fischerei-Organisation Nafo den Kabeljau-Fang im Flemish Cap vor Neufundland nach einem zehnjährigen Verbot für das Jahr 2010 wieder freigibt. Der Nafo gehören unter anderen die Europäische Union, die USA, Japan und Kanada an. Das Flemish Cap befindet sich in der Nähe der Fischgründe der Grand Banks an der Südostküste Neufundlands. Es liegt außerhalb der kanadischen 200-Meilen-Zone, einer Schutzzone um Neufundlands Küste, die seit 1977 für ausländische Fischerflotten verboten ist. Gegen den Rat ihrer eigenen Wissenschaftler erlaubt die Nafo im Flemish Cap jetzt eine Fangquote von 5500 und nicht nur 4100 Tonnen Kabeljau. Das ist mehr als ein Drittel aller im Nordatlantik gefischten Kabeljau-Mengen im Jahr 2009.

Hubert Hedderson kann es nicht fassen. "Warum können die Ausländer dort Kabeljau fischen und wir Kanadier nicht?", sagt er. "Was bleibt dann noch für uns?" Was die ausländischen Schiffe nicht fangen, fürchtet er, fressen die sechs Millionen Robben, die Kabeljau lieben. Offiziell dürfen die kleinen Fischer in Neufundland immer noch eine beschränkte Menge Kabeljau fangen. In diesem Jahr waren es an der Westküste 3000 Tonnen für rund 1000 Boote, das sind drei Tonnen pro Boot. Früher, in guten Jahren, holte aber ein Boot mit riesigen Netz-Fallen leicht an die 100 Tonnen Kabeljau herein. Heute sind diese mobilen Käfige aus Netzen in Neufundland verboten.

Seit Beginn der kommerziellen Fischerei in Neufundlands Gewässern um 1530 wurden nach Schätzungen des kanadischen Biologen George Rose etwa 100 Millionen Tonnen Kabeljau aus den Gewässern von Neufundland und Labrador gezogen. Der Kabeljau hat jahrhundertelang ganze Bevölkerungen in Europa ernährt und deren Wirtschaft in Gang gehalten. Im 20. Jahrhundert vernichteten ausländische und kanadische Fischereiflotten in wenigen Jahrzehnten riesige Kabeljau-Bestände beinahe komplett. Sie hörten auch nicht auf, als es deutliche Anzeichen gab, dass die Bestände immer kleiner wurden. Erst im Juli 1992, als die Lage verzweifelt wurde, verhängte die kanadische Regierung ein Fang-Moratorium, zunächst für einige Jahre, dann für unbestimmte Zeit.

Der Kabeljau habe sich seither nicht wirklich erholt, sagt George Rose. Dass die Nafo jetzt wieder die Fischerei im Flemish Cap erlaubt, schockiert den Fischerei-Professor an der Memorial-Universität in Neufundlands Hauptstadt St. John`s. "Es ist zu früh", sagt er, "die Bestände sind immer noch zu klein." Nur gewissen Teilpopulationen gehe es ein bisschen besser, "aber wenn man dort mit Fischen anfängt, kann es Schaden anrichten". Rose glaubt, dass die kanadische Regierung und andere Länder wenig aus dem Kabeljau-Desaster gelernt hätten: "Die Leute sind gleichgültig und vergessen schnell." Nur die kleinen Fischer nicht. "Der Kabeljau, den wir damals fingen, wurde immer kleiner", erinnert sich Hubert Hedderson, "wir fingen sie, bevor sie auswachsen konnten." Die Küsten-Fischer hätten die Regierung jahrelang gewarnt, diese habe stattdessen die Fangquote für die großen Boote erhöht.

Die Gebrüder Hedderson versammeln sich im Erdgeschoss ihres Elternhauses. Von den sieben Brüdern fischen immer noch fünf in Noddy Bay. Sie halten eisern zusammen, die Heddersons, die seit fünf Generationen in Noddy Bay fischen. Wenn einer Hilfe braucht, dann kann er darauf zählen. Es ist das einzig Verlässliche in ihrer Welt, die am Auseinanderbrechen ist. Diese Männer des Meeres fühlen sich von allen im Stich gelassen, von der Bundesregierung in Ottawa, die in ihren Augen die einheimischen Fischer nicht vor ausländischen Flotten schützt. Von der Regierung in Neufundland, die ihnen verbietet, Fisch direkt an die Konsumenten oder in die Nachbarprovinz zu verkaufen. Von den Fischfabriken, die ihnen die Preise diktieren.

"Die Leute sagen uns, sucht euch einen anderen Job", sagt Hubert, "aber wenn die Fischer aufhören, wenn die Farmer aufhören, woher kommt dann das Essen auf dem Tisch?" Einer der Brüder hat seine Fischerlizenz verkauft, als die Regierung dafür Geld bot, um die Zahl der Fischer zu reduzieren. Viele arbeitslose Männer haben das gemacht, kauften ein Geschäft, einen Wohnmobil-Park für Touristen oder einen kleinen Laden. Oft ging das schief, denn im Kern sind sie Fischer und keine Geschäftsleute. Andere fanden Arbeit in den Ölsanden der Westprovinz Alberta.

Neufundlands Küste ist fast zehntausend Kilometer lang, rund 700 Dörfer beziehen ihr Einkommen vom Ozean. Von den über 12 300 Fischern leben fast 4500 vom Kabeljau. Oder versuchen es mehr schlecht als recht. Viele Siedlungen leeren sich allmählich. Hubert Hedderson harrt aus. "Ich bin glücklich da draußen auf dem Meer", sagt er. Wenn nur die Zeiten zurückkämen, als der Kabeljau zahlreich war wie die Kiesel am Strand von Noddy Bay. Noch 1996 erklärten zwei US-Professoren der Stanford-Universität, dass sich die Kabeljau-Fischerei von Neufundland "in neun Jahren wieder zu einem ökologisch stabilen Niveau" aufgebaut haben werde. Die Realität sieht siebzehn Jahre nach dem Moratorium anders aus: Noch immer weiß man nicht, ob sich die Bestände im Nordatlantik je wieder erholen werden.

"Warum können die Ausländer dort Kabeljau fischen und wir Kanadier nicht?"

Hubert Hedderson, Fischer in Noddy Bay

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