Die trostlose Heimat des Hampelmanns

Yunhe. Liu Diandians Lieblingsspielzeug ist ein grüner Traktor aus Holz. "Den hat meine Mama für mich geklaut", verrät die Siebenjährige stolz. Sie hockt zwischen leeren Bierflaschen auf dem Boden und lässt den kleinen Trecker zwischen Stuhl- und Tischbeinen Slalom fahren. Wenn ihr langweilig wird, baut sie krachende Unfälle

Yunhe. Liu Diandians Lieblingsspielzeug ist ein grüner Traktor aus Holz. "Den hat meine Mama für mich geklaut", verrät die Siebenjährige stolz. Sie hockt zwischen leeren Bierflaschen auf dem Boden und lässt den kleinen Trecker zwischen Stuhl- und Tischbeinen Slalom fahren. Wenn ihr langweilig wird, baut sie krachende Unfälle. Die tiefen Kerben verraten, dass Diandian oft Langeweile hat. Denn sie verbringt viele Stunden allein in dem engen Barackenzimmer. Der Traktor, ein abgewetzter Stoffigel und drei dünne Bilderbücher sind ihre einzigen Spielsachen - und das, obwohl ihre Eltern in einer Spielzeugfabrik arbeiten. Doch zu klauen haben sie nur einmal gewagt, zum Kaufen fehlt ihnen das Geld, und geschenkt bekommt in Yunhe niemand etwas.

Diandian und ihre Eltern, die vor drei Jahren aus der armen Provinz Anhui in die südchinesische Industriestadt gezogen sind, haben kaum eine Vorstellung davon, welche Reise das Spielzeug aus ihrer Fabrik vor sich hat - ebenso wenig wie man sich am anderen Ende der Welt groß Gedanken über seine Herkunft macht. Dabei stammen hunderttausende Geschenke, die in den kommenden Tagen unter deutschen Weihnachtsbäumen liegen werden, aus Yunhe. Allerdings laufen hier nicht die billigen Plastikpuppen vom Band, die "Made in China" seinen zweifelhaften Ruf eingebracht haben. Yunhe fabriziert die Kinderzimmerausstattung der wirtschaftlich Privilegierten, ökologisch Aufgeklärten und pädagogisch Bewussten: Holzspielzeug.

50 Prozent Weltmarktanteil

Mindestens jedes zweite Bauklötzchen, Holzauto oder Schachspiel stammt aus Yunhe, schätzt man in der Branche. "Unser Weltmarktanteil liegt sicher bei 50 Prozent", sagt Gao Jun, stellvertretender Direktor von Yunhes Industriebehörde. So gut wie alle internationalen Spielzeugmarken lassen hier produzieren, auch die aus Deutschland, wo mehr Holzspielsachen verkauft werden als in jedem anderen Land. Selbst Engelsfiguren und Weihnachtspyramiden, die derzeit hunderttausendfach auf deutschen Christkindmärkten verkauft werden, sind zum großen Teil in den heißen Sommermonaten in Yunhes Akkordschnitzereien gefertigt worden.

Verheimlichen lässt sich die chinesische Herkunft zwar nicht, aber oft wird sie verschleiert. "Bei in Deutschland gefertigten Waren drucken die Hersteller ganz groß ,Made in Germany' auf die Packung, aber bei ihren chinesischen Auftragsprodukten kann man das Ursprungsland kaum finden", sagt He Bin, Geschäftsführer von Hexin, einem der größten Unternehmen der Stadt. "Einige Marken behandeln es geradezu als schmutziges Geheimnis, dass sie in China produzieren lassen." Dabei hätten die Skandale um vergiftetes Spielzeug aus China, die in den vergangenen Jahren die Branche erschütterten, bisher nie Holzspielsachen betroffen. "Unsere Qualität steht der deutschen in nichts nach", behauptet He.

Obwohl Yunhe sich heute als "Heimatstadt des Holzspielzeugs" bezeichnet, ist der Ort keineswegs eine traditionelle Handwerkshochburg, sondern verdankt seine Berufung einer planwirtschaftlichen Ad-hoc-Entscheidung. Anfang der Siebziger reiste der damalige Leiter der lokalen Wirtschaftsbehörde nach Shanghai und besuchte dort unter anderem eine Holzspielzeugfabrik. An die üppigen Wälder seiner Heimat denkend, kam er auf die Idee, den Standortfaktor Holz zum Kern seiner Industriepolitik zu machen. Schon zwei Jahre später produzierten in Yunhe zehn Betriebe Spielzeug. Als China sich dann Anfang der Achtziger dem Ausland öffnete, profitierte auch Yunhe. Heute sind von den 200 000 Einwohnern rund 150 000 in der Holzindustrie beschäftigt. Der Rohstoff wird größtenteils aus Russland importiert - die Berge der Region sind längst abgeholzt.

Doch selbst wenn Produkte aus Yunhe die europäischen Normen erfüllen - die Herstellungsbedingungen tun es keineswegs. Die meisten Angestellten arbeiten zu Minimallöhnen, ohne Verträge oder soziale Absicherung. "Wir kommen vom Land und haben nichts gelernt, deswegen können wir auch nicht viel verdienen", sagt Diandians Mutter Liu Xiaoying. "Aber im Dorf gibt es für uns keine Perspektive, und wenig Geld ist besser als gar keines." Zehn Stunden lang malt sie täglich mit einem spitzen Pinsel Pupillen in das Gesicht von Hampelmännern. Für jedes Auge erhält sie 1,7 chinesische Fen (0,17 Cent). An guten Tagen schafft sie bis zu 2500 Farbtupfer - macht etwas über vier Euro. Das reicht gerade, um Diandian zur Grundschule zu schicken. "Wir können ihr nicht bei den Hausaufgaben helfen, denn wir können ja selbst nicht lesen und schreiben", sagt die Mutter.

Die Sicherheitsvorkehrungen in den Fabriken beschränken sich meist auf ein paar Schilder, die pro forma an der Wand hängen. So sind etwa die Arbeiter der Firma Yifa, die sich auf die Herstellung von Schaukeltieren spezialisiert hat, Staub und Lackdämpfen völlig ungeschützt ausgesetzt. "Am Anfang hatte ich ständig Husten, aber man gewöhnt sich daran", sagt ein 60-jähriger Mann, der mit einer Schleifmaschine die runden Kufen glättet. Eine Zeit lang habe er mit einer Mullmaske zu arbeiten versucht, doch damit ließ sich kaum atmen. Professioneller Lungenschutz ist nicht nur ihm, sondern auch den Fabrikbesitzern zu teuer. Wenn er nach einer Elf-Stunden-Schicht staubbedeckt mit dem Elektrodreirad zu seiner Familie zurückfährt, hat er fünf Euro verdient.

Fabrikbesitzer He Bin kennt die Vorwürfe aus dem Westen. "Wir wissen, dass die Situation bei uns alles andere als optimal ist", gibt er zu. Zwar schicken einige Markenunternehmen regelmäßig Inspektoren, um die Produktionsqualität sowie bestimmte Mindeststandards zu kontrollieren. Aber auch die prominentesten Kunden scheuen nicht davor zurück, ihre Zulieferer in einen gnadenlosen Preiskampf zu zwingen. "Wir sind das schwächste Glied in der Produktionskette", sagt He. Der deutsche Ladenpreis betrage in der Regel das Zehnfache der Herstellungskosten.

Ungelernte Tagelöhner

Wie dünn die Schicht derer ist, die mit den Holzspielzeugen gutes Geld verdienen, lässt sich in Yunhes Stadtbild leicht erkennen. Nichts deutet äußerlich darauf hin, dass der Ort Knotenpunkt einer globalen Industrie ist. Während in anderen chinesischen Industriestädten längst amerikanische Fastfoodketten und internationale Markenläden um die besten Standorte konkurrieren, gibt es modernen Lifestyle in Yunhe nur als billige Kopie: Burger isst man beim chinesischen Restaurant "Tigergeneral", die besten Anzüge verkauft die Marke "Chairman", und ein Teehaus hat sich den scheinbar fortschrittlichen Namen "Original Espresso" gegeben. Kein Wunder, dass keine andere chinesische Stadt sich bisher darum bemüht hat, Yunhe seinen Rang als Holzspielzeug-Metropole streitig zu machen.

Denn ihr Nische ist weitaus weniger lukrativ als etwa die von Plastikprodukten. Während in der technisierte Kunststoffbranche eine Vielzahl von Ingenieuren und geschulten Arbeitern benötigt wird, kommen in der Holzverarbeitung größtenteils ungelernte Tagelöhner zum Einsatz, und das benötigte handwerkliche Geschick lässt sich durch die Zerstückelung des Herstellungsprozesses auf ein Minimum reduzieren. Das Spielzeug der deutschen Besserverdiener stammt aus einer Armeleute-Industrie.

He Bin, dessen Vater Mitte der Achtziger Yunhes erste Privatfabrik eröffnete, möchte das ändern und Holzspielzeug nun auch in China bekannt machen - unter seiner eigenen Marke Benho. Denn bisher hat der chinesische Markt für Holzspielzeuge nur ein Volumen von vier Millionen Euro, obwohl die wohlhabenden Familien der städtischen Mittelschicht für die Förderung ihres - in der Regel einzigen - Kindes tief in die Tasche greifen. 18 eigene Läden hat er bereits aufgebaut. Als Werbung hat er einen Animationsfilm mit Holzspielzeugen produziert, der Kindern Umweltbewusstsein beibringen soll. Kommendes Jahr soll daraus eine Fernsehserie werden. "Wenn Holzspielzeug in China ein ähnliches Image bekommt wie in Deutschland, dann sind unsere Probleme gelöst", sagt He. Allerdings ist der Weg noch lang. "Leider sind die Konsumgewohnheiten noch völlig umgekehrt: Holz gilt in China als altmodisch und Plastik als modern." Bis sich das ändert, reist Yunhe in der Globalisierung weiterhin in der Holzklasse. "Unsere Qualität steht der deutschen in nichts nach."

Geschäftsführer

He Bin

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