Dabei sein ist alles

Joshua ist 23 Jahre alt, studiert Betriebswirtschaft und ist nebenbei Hobby-Wetterfrosch. "Mach dir mal keine Sorgen", sagt er, "am Freitagabend bei der Eröffnungsfeier, da wird es schon regnen. Schließlich sind die Olympischen Spiele in London. Alles andere wäre nicht britisch

Joshua ist 23 Jahre alt, studiert Betriebswirtschaft und ist nebenbei Hobby-Wetterfrosch. "Mach dir mal keine Sorgen", sagt er, "am Freitagabend bei der Eröffnungsfeier, da wird es schon regnen. Schließlich sind die Olympischen Spiele in London. Alles andere wäre nicht britisch."Seit einer Woche arbeitet Joshua als sogenannter "Volunteer", als freiwilliger Helfer, für das Organisationskomitee der Spiele in London. Über 70 000 dieser Volunteers sorgen zurzeit in der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs dafür, dass es den Sportlern, den Trainern, den Besuchern an nichts fehlt. Joshuas Job: Er steht den ganzen Tag hinter der Gepäckausgabe am Flughafen Heathrow und fängt Mitglieder der "Olympischen Familie" ab. So nennt das Internationale Olympische Komitee ziemlich kitschig alle London-Besucher, die eine Akkreditierung um den Hals hängen haben und deswegen für Joshua und seine Kollegen gut auszumachen sind. Joshuas Lohn: Kostenlose Getränke während seiner Schicht, zwei Sandwiches und ab und an ein Lächeln seiner "Kundschaft".

Wenn er ein "Familienmitglied" entdeckt hat, begleitet Joshua es von der Gepäckausgabe bis zum Heathrow-Express, einer Bahnlinie, die den schnellsten Weg in die Innenstadt garantiert. Richtig viel zu tun hat er nicht. "Der große Ansturm kam bisher noch nicht", sagt Joshua, "aber das kann ja noch kommen. Ich bin jedenfalls vorbereitet und freue mich auf jeden."

So wie Joshua geht es beileibe nicht allen in der Acht-Millionen-Metropole. Im Gegenteil - er scheint beinahe eine Ausnahme. Viele Einwohner haben sich für die kommenden zweieinhalb Wochen aus dem Staub gemacht, verreisen. Dieses London, dessen Lebenstakt derart schnell ist, dass keine andere europäische Großstadt mithalten kann, wird bis zum 12. August noch schneller, noch lebendiger, noch lauter und noch verstopfter sein als sonst. Und das will etwas heißen. Die Angst der Organisatoren, dass plötzlich niemand mehr da ist, der sich für das größte Sportereignis der Welt interessiert, treibt dabei seltsame Blüten. Die Fluggesellschaft British Airways wirbt sogar auf Großflächenplakaten damit, in den nächsten Wochen nicht wegzufliegen, und nutzt dafür als Slogan: "Die Hymne kann sich nicht selbst singen."

Viele Einheimische befürchten den großen Verkehrskollaps. Die U-Bahnen, schon zu nicht-olympischen Zeiten oftmals zum Bersten gefüllt, müssen den Ansturm von geschätzt einer Million Olympia-Touristen zusätzlich verkraften. Passend dazu sind das beherrschende Dauerthema der Londoner Gazetten zurzeit die "Olympic Lanes". Damit Sportler, Trainer, Betreuer und Funktionäre schnellstmöglich zu den Wettkampfstätten kommen, wurden auf etwa 50 Kilometern Länge Fahrbahnen reserviert, auf denen sich nur Mitglieder der Olympischen Familie bewegen dürfen. Schön für die Familie, ein Drama für Berufstätige.

Ortswechsel. Hackney Wick, ein Stadtteil im Osten von London, direkt neben dem Olympiapark gelegen, der in Stratford aus dem Boden einer heruntergekommenen Industriebrache gestampft wurde. Der kleine Fluss Lea trennt das Olympia-Gelände von Hackney Wick. An einem guten Tag könnte Speerwurf-Weltmeister Matthias de Zordo sein Sportgerät von hier bis ins Olympiastadion werfen. Die Menschen, die hier leben, kennen weder de Zordo noch interessieren sie sich großartig für die Spiele. Einige, wie das deutsch-englische Künstlerpärchen Dan und Silke, haben ihre Wohnungen an Touristen oder Journalisten vermietet. Auch von den Gästen des Hackney Pearl, einer kleinen Bar in der Prince Edward Road, hat niemand eine Karte für eine Veranstaltung oder beabsichtigt, den Olympiapark zu besuchen. Im Gegenteil: Genervt wirken sie hier - vor allem von dem Lärm, der derzeit in den Abendstunden herrscht, weil ständig Hubschrauber über dem Olympiapark kreisen, deren Rotorblätter bis spät in die Nacht mit grummelndem Lärm die Luft zerschneiden. An Schlaf ist hier nur sporadisch zu denken.

Wenig geschlafen haben auch Mike, 21 Jahre, und Mark, 23, in den letzten Tagen. Die beiden Hannoveraner machen Urlaub in London - wegen Olympia sind sie aber nicht hier. Kein Interesse an Sport? "Doch", sagt Mike, der eine Ausbildung zum Großhandelskaufmann macht, "ich spiele sogar aktiv Handball. Bezirksklasse." Trotzdem mag er dem Olympia-Hype wenig abgewinnen. "Ganz schön teuer hier, vor allem das Essen", sagt Kumpel Mark. Ein Hamburger mit ein paar handverlesenen Pommes im "Shakespeare" in der Nähe des Buckingham Palace kostet stolze 10,49 englische Pfund, umgerechnet 13 Euro. Nicht das, was sich ein junger Mensch auf Dauer leisten kann. "Am Freitag fliegen wir nach Hause", sagt Mark. Olympia gibt es für die beiden dann höchstens zuhause in Hannover im Fernsehen.

Joshua ist es egal, was die Leute denken und sagen. Der Volunteer ist froh und stolz, in den kommenden Tagen Teil des größten Sportereignisses der Welt zu sein, sein Scherflein zum Gelingen der Veranstaltung beizutragen. Sein großer Tag steht noch bevor. "Ich darf bei der Abschlussfeier im Stadion sein", erzählt er - die Freude in seiner Stimme lässt sich fast mit Händen greifen. Wie das Wetter dann sein wird am 12. August? "Egal", sagt Joshua und lacht übers ganze Gesicht: "Hauptsache, ich bin dabei."

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