Die Beschneidung der Vernunft

Meinung · Der Streit um die Zirkumzision, die Beschneidung von Jungen, wird in Deutschland mit unverminderter Heftigkeit geführt. Für die rechtliche Unantastbarkeit dieser uralten religiösen Praxis gingen gestern in Berlin Juden und Moslems gemeinsam auf die Straße

Der Streit um die Zirkumzision, die Beschneidung von Jungen, wird in Deutschland mit unverminderter Heftigkeit geführt. Für die rechtliche Unantastbarkeit dieser uralten religiösen Praxis gingen gestern in Berlin Juden und Moslems gemeinsam auf die Straße. Kurz zuvor hatte die erbittert ausgetragene Debatte mit dem öffentlichen "Schrei" der Vizepräsidentin des jüdischen Weltkongresses, Charlotte Knobloch, eine neue Dimension erreicht.Wer den Verlauf der bisherigen Diskussion betrachtet, dürfte einigermaßen verblüfft sein. Nach dem Urteil des Kölner Landgerichts, die operative Entfernung der Vorhaut bei nichtmündigen Knaben sei als Körperverletzung zu werten, hat die Politik ungewöhnlich eilfertig einen Gesetzentwurf (im Sinne der Befürworter) noch für diesen Herbst angekündigt. Zugleich aber sahen sich 700 renommierte Mediziner und Juristen veranlasst, in einem offenen Brief eindringlich das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung und Achtung seiner Würde einzufordern. In besonderer Weise bemerkenswert war die verstörend scharfe Reaktion der Juden (und Muslime): Die antisemitische Keule wird nicht mehr verschämt geschwungen; sie geht mit voller Wucht auf alle jene nieder, die es wagen, eine andere Meinung zu vertreten.

Knobloch scheut sich nicht, in ihrem Debattenbeitrag schon im ersten Satz das Wort "Schoah" zu benutzen. Und stellt allen Ernstes die Frage, "ob ich den Judenmord überleben durfte, um das erleben zu müssen". Landauf, landab beteuern jüdische Repräsentanten, ohne die Entfernung der Vorhaut bei Knaben sei "jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr möglich". Oberrabbiner Yona Metzger nennt die jüdische Beschneidung (Brit Mila) einen "Stempel auf dem Körper eines Juden". Sie sei "ein Siegel, von dem man sich nie verabschieden kann". Diese Diktion verrät, um was es geht: um eine Zwangsbeglückung, die nach jüdischem und islamischem Verständnis den "Bund mit Gott" begründet. Unbeantwortet bleibt dabei die Frage, wieso weibliche Gläubige diesem Bund offenbar ohne Stempel beitreten können.

Nun sind die Mysterien der Religionen nicht umsonst mit Tabus behaftet. Sie zu thematisieren hieße, fundamentale Teile des Glaubens in Frage zu stellen. Und weil Religion rational nur höchst unzureichend erfassbar ist, glauben die Menschen ja auch. Weil sie es nicht wissen können, glauben sie, dass Gott "persönlich" Abraham, dem Urvater der Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam, die Beschneidung befohlen und zu einer Art Bedingung für die Erlösung gemacht habe (Genesis 17). Warum aber auch gebildete Menschen des 21. Jahrhunderts glauben, die vorantiken Überlieferungen mit ihren blutigen Opferriten seien eins zu eins auf die heutige Zeit übertragbar, ist schwer zu verstehen. Auch in den großen jüdischen und islamischen Kulturen müsste die Frage erlaubt sein, warum das Christentum trotz des gemeinsamen abrahamitischen Vorbilds die Taufe als Eintritt in den Bund mit Gott gewählt hat. Merkwürdig in diesem Kontext ist auch der Umstand, dass jüdische Knaben erst im Alter von 13 Jahren die religiöse Mündigkeit erhalten (Bar Mitzwa), aber schon als wehrlose Säuglinge für ihr Leben gebrandmarkt werden.

Die herausragende Fähigkeit des Menschen ist sein Verstand. Die Fähigkeit des (Nach-)Denkens macht ihn einzigartig im Kosmos. Deshalb muss er auch nicht mehr wie zu Abrahams Zeiten glauben, die Erde sei eine Scheibe oder mit einem Opferlamm ließen sich die Götter besänftigen. Heute weiß der Mensch, ob gläubig, atheistisch oder agnostisch, dass die religiöse Orientierung ein Zufallsprodukt ist, weil sich kein Kind seine Eltern aussuchen kann. Es ist richtig: Die Freiheit der Religionsausübung ist ein sehr hohes Gut, ein zentraler Bestandteil unserer Kultur und unserer Verfassung. Doch ethische, medizinische und rechtliche Aspekte sprechen für ein zumindest partielles Umdenken bei einem religiösen Ritus, der sich auch mit einer symbolischen Geste vor Gott verantworten ließe. Wer dies apodiktisch in Abrede stellt, hat womöglich etwas ganz anderes im Sinn: die Beschneidung der Vernunft.

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