Vom Sound des Sozialismus

Saarbrücken. Links-Intellektuelle tragen keine Schlipse. Beim Kongress über den Sozialtheoretiker André Gorz am Wochenende in Saarbrücken dominieren der Pulli und das offene Hemd. Doch Äußerlichkeiten spielen eh keine Rolle, wenn es um den Bedürfnis-Asketen Gorz geht, den Vordenker der Linken, der so gut zitierbar ist und nichts mit dem abgewrackten Sowjet-Sozialismus zu tun hat

 Über die Ideen von André Gorz diskutierten Ex-Ministerpräsident Reinhard Klimmt, der Soziologe Hans Leo Krämer und der Sozialphilosoph Oskar Negt (von links). Foto: Iris Maurer

Über die Ideen von André Gorz diskutierten Ex-Ministerpräsident Reinhard Klimmt, der Soziologe Hans Leo Krämer und der Sozialphilosoph Oskar Negt (von links). Foto: Iris Maurer

Saarbrücken. Links-Intellektuelle tragen keine Schlipse. Beim Kongress über den Sozialtheoretiker André Gorz am Wochenende in Saarbrücken dominieren der Pulli und das offene Hemd. Doch Äußerlichkeiten spielen eh keine Rolle, wenn es um den Bedürfnis-Asketen Gorz geht, den Vordenker der Linken, der so gut zitierbar ist und nichts mit dem abgewrackten Sowjet-Sozialismus zu tun hat. Andererseits: Warum ist überhaupt eine Konferenz über "Den Zusammenbruch des Kapitalismus denken" nötig? Titel, bei denen bürgerliche Zeitgenossen zusammenzucken und an was ganz anderes denken. Nämlich an sozialistische Parolen, ideologische Grabenkämpfe und Studentenproteste.Es war der Saarbrücker Soziologe Hans Leo Krämer, ein Kenner und Verehrer des Sartre-Freundes André Gorz, der die Tagung aus Anlass von dessen 90. Geburtstag mit der "Stiftung Demokratie" und anderen Förderern organisiert hatte. Die Resonanz war beachtlich, rund 200 Interessierte fanden sich Freitag und Samstag im VHS-Zentrum ein, um dem Redefluss der Gorz-Exegeten zu lauschen. Am ersten Tag wurde schwere Kost geboten, auch wenn der kleine Professor Oskar Negt aus Hannover groß beeindruckte und Referent Alfons Matheis den "Versuch einer Rekonstruktion der politischen Ethik von Gorz" mit dem Sound der Alt-68er Bob Dylan und Jimmy Hendrix akustisch würzte.

Oskar Negt, Schüler von Adorno und Horkheimer und seit Jahrzehnten führender Theoretiker der Linken in Deutschland, war Star der Veranstaltung. Sein Vortrag klang nicht sonderlich strukturiert, aber das störte die Gläubigen nicht: Negt erzählte im Duktus des weisen Mannes von seiner Begegnung mit Gorz, vom Briefverkehr mit dem berühmten Philosophen, der auf der "ewigen Suche" nach Alternativen zum kapitalistischen System gewesen sei und unermüdlich "Wege ins Paradies" (ein Werk von Gorz) ausgekundschaftet habe. Negt sprach von Utopien und apokalyptischen Visionen und kam zu der Erkenntnis, dass es "die Realpolitiker (waren), die uns an den Rand der Katastrophe geführt haben, nicht die Utopisten!". Gegenüber unserer Zeitung ergänzte Negt seine Ausführungen mit einem Zitat von Max Weber: "Um das Erreichbare zu erreichen, müssen wir das Unerreichbare denken."

Am zweiten Tag wurde die Debatte praxisnäher. Das lag sicherlich auch an dem politischen Pragmatiker Reinhard Klimmt, der in Gorz "meinen wichtigsten Vordenker" sah, der Linke und Ökologie zusammen gebracht habe. Und es lag an Carolin Lehberger von der IG Metall, die am Beispiel des ZF-Facharbeiters "Kevin" Wasser in den schönen Wein goss: Der Malocher, dem Gorz aus edlen Motiven die Arbeitszeit verkürzen will, habe ganz andere Interessen: Er möchte sogar länger schuften, damit er sich das (von Gorz grundsätzlich kritisierte) Auto mit dem fetten Acht-Gang-Getriebe leisten kann. Lehbergers Fazit: "Gorz hat die Konsumfreude der Bürger unterschätzt".

Nicht nur das. Als der Gewerkschafter Peter Balnis darüber lamentierte, dass viele Werktätige bei der Bildungsarbeit gar nicht (mehr) über Gorz´sche Theorien oder das Tarifrecht diskutieren wollten, sondern "Kurse über Kräutersammeln und Bäume küssen" bevorzugten, wurde das Dilemma der Neo-Linken offenbar: Sie haben keine Rezepte und keine Ahnung, wie sie das Gedankengebäude des Sozial-Architekten André Gorz mit einer nachhaltigen Statik festigen könnten. Eine innovative Idee, wie der Zusammenbruch des Kapitalismus zu Ende gedacht werden könnte, war nicht erkennbar.

Zur Person

André Gorz gilt als einer der wichtigsten Sozialtheoretiker. Als Gerhart Hirsch (später: Gérard Horst) 1923 in Wien geboren, kam er als Jugendlicher in ein Internat im schweizerischen Lausanne, wo er seine spätere Frau Dorine kennenlernte. Gorz studierte Chemie, widmete sich aber zeitlebens seinen wahren Leidenschaft Philosophie und Literatur. 1949 zog er mit Dorine nach Paris, wurde Mitarbeiter von Jean-Paul Sartre und arbeitete als Journalist.

Fast noch berühmter als seine sozialtheoretischen Werke wurden die Biografie "Der Verräter" und sein "Brief an D." (Dorine), der als einer der schönsten Liebesbriefe in die Literaturgeschichte einging. 2007 nahm sich André Gorz gemeinsam mit seiner unheilbar kranken Frau Dorine (83), die er jahrelang gepflegt hatte, in Vosnon (Frankreich) das Leben. bb

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