30 000 Anträge von früheren Heimkindern?

Saarbrücken. Harry B. (62) aus Kleinblittersdorf hat bis zu seinem 21. Lebensjahr in Heimen gelebt, ist öfter brutal zusammengeschlagen worden. Ab dem 15. Lebensjahr absolvierte er eine Lehre als Schuhmacher, arbeitete dann als Geselle. "Ich habe von meinem Geld nie eine müde Mark gesehen", sagt er heute

Saarbrücken. Harry B. (62) aus Kleinblittersdorf hat bis zu seinem 21. Lebensjahr in Heimen gelebt, ist öfter brutal zusammengeschlagen worden. Ab dem 15. Lebensjahr absolvierte er eine Lehre als Schuhmacher, arbeitete dann als Geselle. "Ich habe von meinem Geld nie eine müde Mark gesehen", sagt er heute. Mehr noch: Als er sich vor Jahren nach seiner Rente erkundigte, erfuhr er: "Für Sie wurde in dieser Zeit nie geklebt." Nun hofft Harry B., dass diese Lücke geschlossen wird. Denn in Berlin hat der "Runde Tisch Heimerziehung" in seinem Abschlussbericht einen Hilfs- und Rentenfonds in Höhe von 120 Millionen Euro beschlossen. Am 19. Januar wird der Bericht dem Deutschen Bundestag übergeben, Ende Februar befasst sich die Arbeitsgemeinschaft der Jugend- und Familienministerkonferenz mit dem Thema. Doch Betroffene wollen heute schon wissen: Wo kann man Anträge stellen? Wer ist zuständig? Bei der Kontaktstelle des "Runden Tisches" liefen nach Aussagen ihres Pressesprechers Holger Wendelin seit der Beschlussfassung Mitte Dezember über 500 Anfragen ein, und auch der Verein ehemaliger Heimkinder, der insgesamt 750 Mitglieder zählt, meldet seitdem 300 Ratsuchende, 80 wurden Neu-Zugänge.Doch Geduld ist notwendig. Denn das Verfahren steckt noch in den Anfängen. Entschieden ist durch den Abschlussbericht des "Runden Tisches" noch gar nichts, auch wenn Kirchen, Länder und Bund daran mitwirkten. Das Parlament in Berlin und die Landtage der elf Alt-Bundesländer müssen noch regeln, wie die Lasten verteilt werden. Das beschäftigt auch die saarländische Sozialministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU). Trotzdem erklärt sie auf SZ-Nachfrage: "Wir befürworten eine Entschädigungsregelung."

Wie hoch die Fonds-Einzahlungen für das Saarland ausfallen, ist also noch offen. Auch, ob eine Bundesstiftung oder ein Fonds gegründet wird, wie die Auszahlungskriterien lauten und wie die Landes-Beratungsstellen aussehen sollen. Frühestens 2012, meint Helmut Klotzbücher vom Verein ehemaliger Heimkinder, sei all dies geklärt und es könnten erste Anträge gestellt werden. Nicht etwa pauschal, für erlittenes Unrecht. Deshalb, so Klotzbücher, sei "Entschädigung der falsche Begriff". Um Geld zu erhalten, müssten konkrete Nachteile und aktuelle Beeinträchtigungen nachgewiesen werden, etwa entgangene Rentenansprüche oder gesundheitliche Folgeschäden, seien es Gehbehinderungen oder Traumata. Die Betroffenen müssten Beweise bringen, Akten-Notizen aus den Heimen oder Arzt-Gutachten. Der "Runde Tisch" rechnet mit etwa 30 000 Antragstellern. Im Saarland sind nach Angaben des Sozialministeriums erst fünf Menschen an Behörden herangetreten. Das Landesjugendamt übernehme bis auf Weiteres die Funktion einer Anlaufstelle.

Die Ermittlung der Renten-Ansprüche wird von den Betroffenen-Verbänden als relativ unkompliziert angesehen: Die Arbeitsverhältnisse in Heimen seien dokumentiert oder aber durch Zeugenaussagen belegbar. Allerdings ergäben sich für den Einzelnen nach ersten Rechen-Exempeln nur sehr bescheidene Rentenaufbesserungs-Summen: 10 bis 20 Euro im Monat.

Was die Folgeschäden-Regelung angeht, hält Klotzbücher nicht einmal die hohen Kosten für Trauma-Behandlungen - bis zu 50 000 Euro -, die den Fonds schnell überfordern könnten, für die zentrale Hürde. Sondern den Mangel an Spezialisten und Klinik-Plätzen. Auch auf der politischen Ebene droht womöglich ein Hürdenlauf. Lehnt ein einziges Bundesland die Regelung ab, kippt die Gesamt-Konstruktion. Die Heimkinder müssten noch länger warten. Bis die "biologische Uhr" die Sache erledigt, wie Klotzbücher meint?

Informationen: Landesjugendamt; Tel. (0681) 5012082.

Respekt als oberstes Gebot

Von SZ-RedakteurinCathrin Elss-Seringhaus

Der Runde Tisch in Berlin hat sich gegen die kollektive Entschädigung der Heimkinder entschieden, obwohl vieles dafür spricht, dass die Heime der Alt-Bundesrepublik zwischen 1950 und 1970 als "System" gesehen werden müssen: als ein rechts- und kontrollfreier Willkür-Raum.

Trotzdem ist die Einzelfall-Prüfung richtig. Denn selbst die Betroffenen-Verbände schätzen die Zahl der tatsächlich Geschädigten auf maximal 30 000 und rechnen mit noch sehr viel weniger Menschen, die den Schritt zum "Entschädigungsamt" gehen werden. Denn: Bei der Aufarbeitung von Unrecht heilt Geld die Wunden nur oberflächlich. Umso wichtiger wird sein, wie hilfsbereit man sich zeigt und welchen Respekt man den Opfern zollt, wenn sie sich zu einem Behördengang entschließen. So kompliziert das Verfahren bereits jetzt angelegt ist, darf man Schlimmstes befürchten. Deshalb tun die Länder gut daran, das Thema nicht erst nach der Finanzierungs-Gesamt-Lösung anzugehen, sondern schon jetzt Betreuung und Beratung anzubieten. Das hiesige Sozialministerium hat hier prompt reagiert. Das ist gut. Nun liegt es an den Landesjugendamt-Mitarbeitern, ob sich die Betroffenen endlich ernst genommen fühlen.

Hintergrund

Im Saarland gab es in den siebziger Jahren 31 Heime mit 2064 Kindern. Bundesweit waren in den 50er und 60er Jahren in 3000 westdeutschen Heimen bis zu 800 000 Kinder untergebracht, davon etwa 300 000 in katholischen Einrichtungen.

Seit Februar 2009 arbeitete in Berlin ein "Runder Tisch Heimerziehung" Züchtigungen und sexuellen Missbrauchsfälle auf. Am 13. Dezember 2010 lag der Abschlussbericht vor. Anerkannt wurden Menschenrechtsverletzungen. Eingerichtet werden soll ein Hilfs- und Rentenfonds von 120 Millionen Euro, dessen Finanzierung sich zu je einem Drittel Bund, Länder und Kirchen teilen. Für Arbeit, die in Heimen geleistet wurde, sollen Sozialversicherungsbeiträge nachgezahlt werden. Dafür gibt es 20 Millionen Euro. Weitere 100 Millionen Euro laufen in einen "Fonds für Folgeschäden" für Therapien und Hilfsmittel. Auf Landesebene sollen Beratungsstellen eingerichtet werden. ce

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