Placebos: Wirkung ohne Wirkstoff

Saarbrücken. Es gibt Medikamente, die wirken gegen (fast) alles, doch sie enthalten nichts. Solche Arzneien ohne Wirkstoff nennen Mediziner Placebos. Für die Forschung sind sie ein Rätsel. Denn obwohl sie nach medizinischen Maßstäben keine Effekte haben dürften, helfen sie oft besser als echte Pillen

Saarbrücken. Es gibt Medikamente, die wirken gegen (fast) alles, doch sie enthalten nichts. Solche Arzneien ohne Wirkstoff nennen Mediziner Placebos. Für die Forschung sind sie ein Rätsel. Denn obwohl sie nach medizinischen Maßstäben keine Effekte haben dürften, helfen sie oft besser als echte Pillen.

Placebo-Effekte haben neuseeländische Forscher auch in alltäglichen Versuchen beobachtet: Schon ein kleiner Drink kann bei vielen Menschen einen Schwips verursachen - selbst wenn das Getränk keinen Alkohol enthält. Es genügt, dass wir an die Wirkung des Alkohols glauben. Ähnliches gilt für Herzrasen und Kaffee. Empfindliche Menschen klagen über Unruhe - auch wenn sie koffeinfreien Kaffee trinken. Ein Schwips ohne Alkohol, Herzrasen ohne Koffein sind nur zwei Beispiele für den Placebo-Effekt. Der lateinische Begriff bedeutet "Ich werde gefallen". Bis zu 60 Prozent der Wirkung von Arzneimitteln geht auf den Placebo-Effekt zurück, schätzt Professor Dr. Manfred Schedlowski, Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie am Uniklinikum Essen. "Rechnen die Patienten mit einer bestimmten Wirkung, tritt diese voraussichtlich auch ein", so der Placebo-Forscher.

Beispiel Schmerzmittel: Sie wirken oft nur schwach, wenn die Patienten nicht wissen, was sie bekommen. Erfährt der Patient aber, dass er ein im Medizinerdeutsch Analgetikum genanntes Mittel bekommt, wirkt es viel stärker. Auch der Preis spielt eine Rolle. Es gibt Studien, in denen Patienten von stärkerer Schmerzlinderung berichten, wenn sie ein teures Medikament oder ein Markenpräparat bekamen. Preiswertere Pillen fielen in den Tests durch - dabei hatten beide Patientengruppen nur ein Scheinmedikament geschluckt.

Die schmerzlindernden Effekte des Glaubens können Ärzte sogar mittlerweile mit bildgebenden Verfahren im Hirn sichtbar machen. Sind Patienten überzeugt, dass sie ein Schmerzmittel erhalten, schütten bestimmte Regionen des Gehirns Endorphine aus, das sind körpereigene Schmerzkiller. Die Erwartungshaltung beeinflusst Patienten mitunter sogar so stark, dass sie die Wirkung von Medikamenten umdrehen kann. Beispiel Asthma: Bestimmte Wirkstoffe verengen die Bronchien und verschlimmern damit die Beschwerden der Patienten, andere Medikamente erweitern die Atemwege und lindern Anfälle. Kündigten Ärzte an, ein Mittel zu geben, dass die Bronchien erweitert, ging es vielen Patienten auch dann besser, wenn das Medikament den entgegengesetzten Effekt hatte.

Es gibt jedoch nicht nur Scheinmedikamente, sondern auch viel tiefer gehende Therapien, zum Beispiel Operationen, die diesen Effekt haben können. Patienten mit Gelenkbeschwerden ging es nach Scheinoperationen, bei denen Chirurgen lediglich ihre Haut ritzten, genauso gut wie Kranken, bei denen die Ärzte tatsächlich eine Gelenkspiegelung vorgenommen hatten. Ähnliches gilt für Akupunktur, die wirksam Schmerzen lindern kann, selbst wenn die Therapeuten die Nadeln wahllos setzen, statt sich an die traditionellen Energiepunkte zu halten.

Wie genau der Placebo-Effekt entsteht, ist nicht bekannt. Neben der Erwartung der Patienten beeinflusst vor allem das Verhältnis zwischen Therapeuten und Patienten den Placebo-Effekt, erklärt Schedlowski: "Je vertrauensvoller die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist, desto stärker wirkt der Placebo-Effekt." Im Klartext heißt das: Ärzte müssen wieder mehr mit ihren Patienten reden und sich Zeit nehmen. Denn Vertrauen kann nicht nur Placebos wirksam machen, sondern auch die Wirkung echter Medikamente verstärken.

Nach einer aktuellen Studie an der Medizinischen Hochschule Hannover gehören Scheinmedikamente zum festen Bestandteil des therapeutischen Repertoires in Krankenhäusern. Ein Forscherteam befragte 180 Ärzte und Pflegekräfte, ob und wie oft sie zu Placebos greifen. 53 Prozent der befragten Ärzte und 88 Prozent der Pfleger erklärten, dass sie schon Scheinmedikamente eingesetzt haben - meist gegen Schmerzen oder Schlaflosigkeit. Allerdings geschah dies nur selten: Weniger als zehn Prozent gaben an, Placebos ein- bis zweimal pro Woche zu nutzen.

Ärzte, die Placebos einsetzen, stecken in einem ethischen Dilemma. Sie müssen ihre Patienten über die Therapie aufklären. Verraten sie aber einem Kranken, dass er ein Scheinmedikament erhält, bleibt die Wirkung aus. Häufiger als echte Placebos kommen deshalb "Pseudo-Placebos" zum Einsatz, vermutet Professor Dr. Bruno Müller-Oerlinghausen, Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Das sind Medikamente, deren Wirksamkeit so schwach ist, dass sie weitgehend auf dem Placebo-Effekt beruhen. Dazu gehören manche Naturheilmittel, aber auch homöopathische Arzneien. "Etwa sieben Prozent aller verordneten Arzneimittel sind in ihrer Wirkung umstritten", erklärt Professor Dr. Ulrich Schwabe, Emeritus am Pharmakologischen Institut der Universität Heidelberg und Mitherausgeber des Arzneiverordnungs-Reports. Garantiert wirkstoffrei sind schließlich Placebo-Medikamente, die in Apotheken verkauft werden. Über deren Marktanteile und Umsätze lassen die Hersteller nichts verlauten. Nach Aussage des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte sind derzeit sieben zugelassene Präparate im Handel.

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