Der harte Kampf um seine Muttersprache

Saarbrücken. "Bananen sind Obst." Der freundliche Herr mit der dicken Brille braucht eine gefühlte Ewigkeit, bis er diesen Satz ausgesprochen hat. Zögerlich formt er jede Silbe in seiner Muttersprache Russisch. Dann noch einmal, diesmal flüssiger und deutlicher: "Bananen sind Obst." Jetzt strahlt Leonid Filshteyn (sprich: Vielstein). Und auch Lilia Getmann lächelt

Saarbrücken. "Bananen sind Obst." Der freundliche Herr mit der dicken Brille braucht eine gefühlte Ewigkeit, bis er diesen Satz ausgesprochen hat. Zögerlich formt er jede Silbe in seiner Muttersprache Russisch. Dann noch einmal, diesmal flüssiger und deutlicher: "Bananen sind Obst." Jetzt strahlt Leonid Filshteyn (sprich: Vielstein). Und auch Lilia Getmann lächelt. Die Sprachtherapeutin ist zufrieden mit ihrem ungewöhnlichen Patienten. Seit einem Jahr kommt sie zu ihm, in seine kleine Wohnung im vierten Stock eines Malstatter Mietshauses. Getmann hilft Filshteyn dabei, seine Sprache zurückzugewinnen.Bis zum 3. Februar 2011 beherrschte er sie noch perfekt. Doch dann passiert es: Ein Schlaganfall zerstört Filshteyns Sprachzentrum im Gehirn. Seitdem versteht der Ukrainer Russisch zwar noch, doch wenn er selbst etwas sagen will, fallen ihm die richtigen Worte einfach nicht mehr ein. Deshalb muss er sie wieder lernen, jeden Tag, Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort. Mit 79 Jahren.

Filshteyn geht es damit besser als den meisten Migranten in Deutschland, die wegen eines Schlaganfalls nicht mehr sprechen können. Denn er bekommt Hilfe. "Normalerweise haben Migranten kaum eine Chance auf Heilung", sagt Mustafa Yazici. Der Türke, der auch den deutschen Pass hat, leitet das Multilinguale Sprachtherapeutische Institut (MSI) in Saarbrücken. Ein Fachzentrum der Caritasklinik St. Theresia, das Migranten mit Sprachstörungen in ihrer Muttersprache behandelt. Es ist das einzige Zentrum in ganz Deutschland.

Genau das ist das Problem. Immer mehr Menschen mit ausländischen Wurzeln leben in der Bundesrepublik. Zwangsläufig steigt die Zahl der Schlaganfall-Patienten, 40 000 sind es durchschnittlich pro Jahr (Lesen Sie dazu auch den "Hintergrund"). Jeder Dritte kann nach der Attacke nicht mehr richtig oder überhaupt nicht mehr sprechen.

Mit traurigen Konsequenzen, sagt Yazici: "Die Meisten gehen nicht mehr vor die Tür. Sie schämen sich, dass sie nicht mehr kommunizieren können, werden depressiv und isolieren sich von der Gesellschaft." Was Hilfe so schwierig macht: Migranten müssen in ihrer Muttersprache therapiert werden. Ganz gleich, wie lange sie schon Deutsch sprechen, erklärt Yazici: "Die Muttersprache haben wir schon im Mutterleib gehört und in der Kindheit verinnerlicht. Sie tragen wir auch nach einem Schlaganfall in uns." Jede weitere Sprache, die später hinzukomme, sei für das Gehirn eine Fremdsprache. Und diese würden durch den Schlaganfall nahezu ausgelöscht.

So wie bei Filshteyn. Der Ukrainer lebt seit 1999 in Deutschland und verstand auch die Landessprache immer besser. Seit dem Schlaganfall versteht er aber fast nichts mehr. Würde es das MSI in Saarbrücken nicht geben, würde Filshteyn dasselbe machen, was viele Migranten in Deutschland tun, glaubt Yazici. "Sie brechen die Therapie ab, weil sie sie ja nicht verstehen."

Doch warum schicken Ärzte Einwanderer dann überhaupt zu deutschen Sprachtherapeuten? Yazici: "Weil es in Deutschland zu wenige ausgebildete muttersprachliche Logopäden gibt und weil sie immer noch eine kulturelle Barriere im Kopf haben." Will heißen: Ärzte missachteten, dass Migranten teilweise andere Bedürfnisse haben als Deutsche. "Das ist ein harter Vorwurf, aber es ist die Erfahrung, die ich in meinem Berufsleben gemacht habe."

Ausbaden müssten es die Patienten. Denn bei Sprachstörungen nach Schlaganfällen beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. "Man muss schnell handeln, gerade die ersten Monate nach der Attacke sind entscheidend." Was hier versäumt wird, könne in der späteren Konsolidierungsphase der Krankheit (bis zwei Jahre nach dem Schlaganfall) und besonders in der chronischen Phase (ab zwei Jahren) kaum mehr aufgeholt werden. "Doch viele Patienten kommen viel zu spät zu uns", sagt Yazici. Falls sie überhaupt vom MSI erfahren.

Derzeit therapiert Yazici dort lediglich drei Migranten mit einer Aphasie, wie die Mediziner eine Sprachstörung nach Schlaganfällen nennen. Einer von ihnen ist der Rentner aus der Ukraine. Hätten die Ärzte bei ihm nicht so schnell reagiert und ihn an Yazici überwiesen, wäre er wohl für immer stumm geblieben. Und das, obwohl er eigentlich hätte wieder sprechen können. Ein Schicksal, das Jahr für Jahr tausende Menschen mit ausländischen Wurzeln in Deutschland erleiden müssen.

Verzweifelt hoffen manche, in ihrer alten Heimat eine Therapie zu bekommen. "Das bringt meistens nichts. Denn die medizinische Versorgung ist oft viel schlechter als in Deutschland. Auch gibt es den Beruf des Logopäden in vielen Ländern überhaupt nicht", weiß Yazici. Ein weiteres Problem: Die Patienten sind in Deutschland versichert, müssten die Therapie außerhalb der Bundesrepublik aber aus der eigenen Tasche zahlen.

Billig ist die Hilfe eines Fachmanns nicht. Auch hierzulande nicht. Etwa 40 Euro müssten Filshteyn und andere Patienten normalerweise pro Sitzung zahlen, rund ein Zehntel des eigentlichen Preises, erklärt Yazici. "Patienten sind aber meist befreit von den Kosten, sonst könnten sie sich die Therapie nicht leisten." Doch selbst mit einer monatelangen Behandlung bekommen Menschen ihre Muttersprache selten komplett zurück. "Unser Ziel ist es, dass die Patienten wieder ihre Wünsche und Gedanken, ihre Gefühle mitteilen können. Und sie so wieder an der Gemeinschaft teilnehmen können", sagt Mustafa Yazici.

Dafür kämpft auch Leonid Filshteyn. Jeden Tag liest er Zeitungen und Bücher, schaut Fernsehen, saugt so Sprachfetzen auf und beschreibt Dinge, die er sieht. Zum Beispiel: "Bananen sind Obst." Sein größter Wunsch ist es, sich wieder mit seiner Frau unterhalten zu können. Doch ob er jemals wieder Russisch flüssig sprechen kann, ist unklar, sagt seine Therapeutin Lilia Getmann: "Wir müssen einfach versuchen, dass er so weit wie möglich kommt."

Hintergrund

Offizielle Statistiken über Migranten mit Schlaganfällen in Deutschland gibt es nicht. Die Dunkelziffer lässt sich aber schätzen. Wie folgt: In Deutschland erleiden jährlich rund 200 000 Menschen einen Schlaganfall. Laut Statistischem Bundesamt hat jeder fünfte Bundesbürger einen Migrationshintergrund. Überträgt man das auf die Anzahl der Anfälle, heißt das: Etwa 40 000 Menschen mit ausländischen Wurzeln bekommen pro Jahr in der Bundesrepublik einen Schlaganfall. pbe

Auf einen Blick

Migranten integrieren: So könnte man die Aufgabe des Multilingualen Sprachtherapeutischen Instituts (MSI) an der Caritasklinik St. Theresia in Saarbrücken umschreiben. Der Schlüssel zum Erfolg sei die Sprache. Genauer gesagt: die Muttersprache, meint Mustafa Yazici, Leiter des MSI. Die Sprachtherapeuten des Zentrums behandeln deshalb Kinder bis Senioren, die an Sprachstörungen leiden, in insgesamt neun Sprachen: Arabisch, Bosnisch, Deutsch, Französisch, Italienisch, Kroatisch, Russisch, Serbisch und Türkisch. Das ist einzigartig in der Bundesrepublik. Nähere Infos zur Arbeit des MSI gibt's per Telefon unter (06 81) 4 06 18 01 oder im Internet unter www.cts-mvz.de. pbe

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