„Kriecht zu eurem Europa“

Charkiw · In Donezk besetzen Moskauer Sympathisanten den Sitz der Zentralregierung. In Charkiw werden Europa-Anhänger bespruckt, getreten und geschlagen. Ist der Zerfall der Ukraine noch zu stoppen?

Es ist Sonntag, früher Abend, in Charkiw. Noch ist das Verwaltungsgebäude der ost ukrainischen Großstadt nicht gestürmt. Doch der Hass prorussischer Demonstranten bricht sich plötzlich Bahn. Sie umzingeln eine Gruppe Proeuropäer. Zwingen die politischen Gegner, sich in den Straßendreck zu knien. "Kriecht zu eurem Europa", rufen sie höhnisch. "Charkiw ist eine russische Stadt!"

Der Mob verhöhnt die Gruppe friedlicher Aktivisten, die sich zur Zentralregierung in Kiew bekennt. Die Gruppe wird bespuckt, getreten, geschlagen. Bereitschaftspolizisten bilden schließlich einen Korridor, um schlimmere Gewalt zu verhindern. Doch eine schlimmere Demütigung ist kaum vorstellbar. Wenig später dringt die Kunde auf den Freiheitsplatz, dass Moskauer Sympathisanten in Donezk den Sitz der Zentralregierung besetzt haben. Die Botschaft beflügelt die Kiew-Gegner in Charkiw, auch sie marschieren jetzt zum Regionalrat. Dort stehen hunderte Bereitschaftspolizisten - doch sie weichen der Kraftprobe aus. Als hunderte Demonstranten durch das Gebäude schwärmen, die russische Flagge hissen, stehen die Beamten auf ihre Schutzschilde gelehnt dabei, plaudern, rauchen.

Ukrainische Spezialeinheiten haben nach Berichten örtlicher Medien am Montagabend ein von prorussischen Aktivisten besetztes Geheimdienstgebäude in Donezk geräumt. InterimsPräsident Alexander Turtschinow soll den Einsatz persönlich angeordnet haben.

Ist der Zerfall der Ukraine noch zu stoppen? Kann es Kiew gelingen, Donezk, Charkiw und Lugansk, die östlichen Metropolen mit hohem russischsprachigen Bevölkerungsanteil, noch an sich zu binden? Oder ist die russische Verlockung zu groß, so dass die Industriehochburgen ihr Heil in einer Abspaltung von der Ukraine suchen? Bis vor kurzem sah es nach einer vorsichtigen Entspannung in der Ukraine-Krise aus. Spätestens seit gestern schrillen wieder die Alarmglocken. "Ich proklamiere die Gründung eines unabhängigen Staates der Volksrepublik Donezk", ruft der Anführer hunderter prorussischer Demonstranten, die das dortige Verwaltungsgebäude besetzt haben. Die regionale Nachrichtenwebsite Ostrow berichtet, die Aktivisten hätten auch beschlossen, das Gebiet in die Russische Föderation einzugliedern. Die Entscheidung wird mit Beifall und Aufrufen an Russlands Präsi dent Wladimir Putin quittiert, das Vorhaben zu unterstützen. Der Nachrichtenagentur Interfax zufolge wollen die Moskau-Sympathisanten bis 11. Mai eine Volksabstimmung abhalten.

Noch Ende März sah es so aus, als gäbe es Chancen für eine diplomatische Lösung. Moskau stellte die Bedingung, die Ukraine müsse in eine Föderation verwandelt werden, mit größerer Autonomie für die Grenzregionen. Der Westen reagierte kühl, die Übergangsregierung empört. Und Russland zog an der Grenze Truppen zusammen. Keine zehn Tage später sieht es fast so aus, als habe sich die Frage erledigt, ob mehr Autonomie die Abspaltungswilligen noch zügeln könnte. Interims-Ministerpräsident Arseni Jazenjuk macht ein Mal mehr Putin für die Unruhen im Osten verantwortlich. Diese seien "Teil eines Destabilisierungsplans, damit eine fremde Armee die Grenze überschreitet und in ukrainisches Territorium einmarschiert", sagt er. "Das Drehbuch ist von der Russischen Föderation geschrieben, und das einzige Ziel ist die Zerstückelung der Ukraine." Ein Ausweg scheint nicht in Sicht. Selbst wenn Kiew versuchte, die Grenzregionen durch mehr Autonomie im Land zu halten, würde dies auf eine De-facto-Teilung hinauslaufen, meint Wadym Karassjow vom Institut für internationale Strategie in Kiew.

Am Abend vereinbarten die USA und Russland einen neuen Anlauf für eine diplomatische Lösung der Krise binnen der nächsten zehn Tage. An dem Treffen sollen Vertreter der EU und der Ukraine teilnehmen.

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