Wohnstuben-Terrorismus

Saarbrücken · Sie ist ein literarischer Gassenhauer, die märchenhafte Geschichte vom „Kleinen Prinzen“, die uns so viel Kluges über Freundschaft lehrt. Christoph Diem macht daraus eine ungewöhnlich harte Story. Am Freitag bekam er dafür in der Sparte 4 viel Applaus.

 Die Bühne als Schlachtfeld: Ein Blick auf die Installation von Achim Naumann d'Alancourt. Foto: Björn Hickmann

Die Bühne als Schlachtfeld: Ein Blick auf die Installation von Achim Naumann d'Alancourt. Foto: Björn Hickmann

Foto: Björn Hickmann
 Harte Story: Gertrud Kohl spielt in Saarbrücken den „Kleinen Prinzen“. Foto: Marco Kany

Harte Story: Gertrud Kohl spielt in Saarbrücken den „Kleinen Prinzen“. Foto: Marco Kany

Foto: Marco Kany

Der Held verfügt über eine überdurchschnittliche Intelligenz und eine imponierende rhetorische Begabung. Doch er leidet an Egozentrik, Larmoyanz, Weltekel, Frauenhass und Überheblichkeit. Das äußert sich in Ruhelosigkeit und Rüpelhaftigkeit. So weit, so festgelegt und so legendär der von John Osborne (1929-1994) entwickelte Charakter von Jimmy Porter, eines in sich kreisenden Rebellen ohne Mission. 1956 kam "Blick zurück im Zorn" heraus, 1958 wurde es mit einem gefährlich funkelnden Richard Burton verfilmt. In der Alten Feuerwache konfrontiert uns Andreas Anke mit einem Gegenentwurf.

Er schwitzt und stampft, knallt Türen und krakeelt herum, er zerfetzt Zeitungen und Anke badet schon mal im Schlamm, der sich von oben, aus einer Riesen-Material-Rutsche, über ihn ergießt. Theatertrend gemäß ist die Spielfläche bis zur Pause zugemüllt. Dort herrscht ein dauergenervter Anke, der mit zynischen Beleidigungen und Unberechenbarkeit Dauerstress verbreitet. Seinen hilfsbereiten Freund und Mitbewohner Cliff (Robert Prinzler) räuchert er aus, und seine duldsame Frau Alison, ein beschütztes Mädel aus bestem Hause, das den "spirituellen Barbar" als Bewährungs-Lebensaufgabe begreift, tyrannisiert er durch permanente Beleidigungen: Sie sei nicht eben helle und habe die Leidenschaft einer Pythonschlange. Doch Dorothea Latas Schweigen am Bügelbrett entspringt keiner harmlosen Wohlerzogenheit, sondern einer Überlebens-Strategie. Ihre Alison besitzt eine geheime Kraftquelle, die sie befähigt, dem Wohnstuben-Terroristen Stand zu halten.

Warum ein deutlich zu alter Anke diese Figur spielt, bleibt rätselhaft. Er wirkt neben dem jugendlich-frischen Cliff von Prinzler wie dessen Vater. Zweieinhalb Stunden lang zeigt Anke uns mit provokanter, kindlicher Wonne seinen nackten Dickbauch unterm weit geöffneten Schmuddel-Bademantel. Er gibt also den plakativen Kotzbrocken. Willkommen bei "Ekel Alfred"? Nein, der Humor- und Spaßfaktor entfällt. Zudem hat die modisch aufgerissene Bühnen-Installation von Achim Naumann d'Alancourt mit Milieu nichts am Hut. "Zorn" steht über der Szene, nicht eben originell, man sieht Plastikstühle, einen Glascontainer als Balkon und Boxen, in die sich die Darsteller verkriechen und aus denen Kameras Videobilder übertragen.

Teetassen-Establishment

Es ist dies die typische Verwahrlosungs-Kulisse für Martin Nimz' Zugriff. Seine Version bleibt im Psychogramm eines destruktiven Charakters stecken - und gerät in Schräglage. Denn Osbornes "Blick zurück im Zorn" verstand sich anders, als Porträt eines sozialen Phänotyps, es gewann seine Kraft aus unmittelbarem Zeitbezug. Denn Osborne und später andere Autoren - die "angry young men" - kritisierten das britische Teetassen- und Pferderennen-Establishment. Die Jimmys aus der Arbeiterschicht bekamen in diesem System zwar ihren universitären Aufstieg, schafften es dennoch nur zum Lollystand-Besitzer. Dementsprechend frustriert und deprimiert ihr Gemütszustand, der in ziellose Aggression umkippt. Klingt nach Hier und Heute; Cliff trägt denn auch eine Rapperkappe. Doch Alisons Freundin Helen (Yevgenia Korolov) hat Jutta Kreischer in 50er-Jahre-Etuikleider gesteckt. Auf dem Schlachtfeld findet sich auch die Souffleuse ein, und in den Dialogen taucht Angela Merkel auf. Brüche der Zeit- und Illusions-Ebene, doch sie führen zu Nichts.

Überraschenderweise fängt sich der Abend immer mal wieder auf der schiefen Bahn. Etwa, wenn Jimmy und Alison ihre sonderbaren Bär- und Eichhörnchen-Sex-Spielchen aufführen. Dann schwankt der Zuschauer zwischen Abwehr und Mitleid. Und wenn eine so gebrochene wie gereifte Alison, nachdem sie ihr Kind verloren hat, zu Jimmy zurückkehrt, der sich zwischendurch mit Helen tröstete, dann wird dies durch eine in allen Schmerzensfarben glühende Dorothea Lata zu einem erschütternden Gänsehaut-Moment. Jawohl, Jimmy hat diese Frau dort, wo er sie haben wollte: mit der Nase tief im Dreck, an seiner Seite. Ein Ehekrieg, mehr war da nicht.

Termine: 18., 20., 21. und

29. September. Karten unter:

Tel. (06 81) 309 24 86.

Wie halten Sie's denn mit dem "Kleinen Prinzen"? Liegt diese Erzählung immer noch unter Ihrem Kopfkissen? Haben Sie das schmale Buch zehn Mal gelesen oder nur einmal, dann aber wie im Rausch? Egal. Die Anmut und die Lebensklugheit der 1943 erschienenen, gleichnishaften Geschichte über Mitmenschlichkeit, Freundschaft, Verantwortung, Loslassen und Abschiednehmen erzeugen nun mal eine Art Sucht. Wie überzuckerte Bonbons? Jedenfalls braucht es eine Menge Willenskraft und Chuzpe, sich dem niedlichen, süffigen Charme des Kultwerkes entgegenzustemmen. Es handelt von einem Prinzen, der auf der Flucht vor seiner eitlen Geliebten, einer Rose, auf eine Planeten-Reise flieht und in der Wüste strandet. Der Autor - Antoine de Saint-Exupéry (1900-1944) - stürzte selbst bei einem Aufklärungsflug vor Marseille ab.

Christoph Diem, Leiter der Sparte 4, und Dramaturg Holger Schröder haben eine herbe, harte, textlich sparsame Bühnenfassung hergestellt. Sie wollten, wie sie in einem Programm-Statement schreiben, "zweifeln, rütteln, brüten, freilegen". So entstand ein Abend, der sich zu allem Erwartbaren quer legt. Saint-Exupéry-Fans müssen sich wappnen.

Nur kein Schwulst, kein Schmalz, keine Sentimentalität lautet die Marschrichtung. Wahrhaftigkeit ist das Ziel. Soweit, so blendend gelungen. Doch es kommt auch kein Sog und keine Magie auf, alles Kindlich-Zauberhafte entfällt. Diem überformt das Märchen mit realistischem "Setting" (Ausstattung: Florian Barth): eine Krankenhaus-Situation, ein Sterbezimmer. Ob Kinderstation oder Nervenklinik, das bleibt in der Schwebe. Alles Geschehen könnte auch nur Fatamorgana oder Psychose-Imagination sein. Jedenfalls drehen die Weltall-"Blumen" auf der Bühnenrückwand psychedelische Kreise, sie wechseln sich mit Zeichnungen ab, die die Darsteller in Sand auf einen Videobeamer malen. Ein wunderbarer Einfall.

Jedenfalls liest eine Schwester (Gabriela Krestan) dem "Prinzen" (Gertrud Kohl) vor, verwandelt sich - stramm und souverän - in die Rose, den Herrscher, den Geografen oder den Laternenanzünder, Saint-Exupérys satirisch-kritisch gekennzeichnete Gesellschafts-Typen. Der Pilot - Georg Mitterstieler im Flieger-Outfit - kommt zu Besuch. Mitterstieler darf die Rolle lebensecht anlegen und arbeitet sowohl die existenzielle Bedrohung durch Durst wie auch die wachsende Bindung zum Prinzen vorzüglich heraus. Mit dem hat es Gertrud Kohl schwerer, weil sie balancieren muss zwischen Fantasiegestalt und Kind aus Fleisch und Blut. Kühl wirkt sie, zugleich anrührend naiv. Der Zuschauer pendelt zwischen Einfühlung und intellektueller Draufsicht und wird so recht nicht warm und froh. Diese mit Melancholie durchtränkte Version wirkt so, als habe Diem den Stoff in eine Ausnüchterungszelle gesteckt und dann wieder Drogen reingeschmuggelt.

Nächste Termine: 19. und 21. September, 10., 11.,18., 19., 25. und 26. Oktober.

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