Vom Dunst der Legenden befreit

Saarbrücken · Herschel Grynszpan erschoss 1938 den Diplomaten Vom Rath und bot so den Vorwand für die Pogromnacht. Mit dem Buch „Herschel“ leistet der Autor Armin Fuhrer einen wichtigen Beitrag zur Lückenschließung.

Die Novemberpogrome 1938 - brennende Synagogen, verwüstete Geschäfte - diese Bilder sind Bestandteil der öffentlichen Erinnerung. Weniger bekannt sind die Details der Vorgeschichte. In dem in der BRD bis Ende der 80er-Jahre benutzten Unterrichtsbuch "Zeiten und Menschen" heißt es etwa vage: "Ein junger Jude, dessen Eltern ausgewiesen worden waren, erschoss aus Rache in Paris einen deutschen Diplomaten." Mit seinem Buch "Herschel" ruft Armin Fuhrer diesen "jungen Juden" in Erinnerung - 75 Jahre nach den Pogromen.

Herschel Grynszpan wurde 1921 in Hannover geboren. Seine Eltern waren aus dem russischen Teil Polens nach Deutschland eingewandert. 1936 reiste er zu Onkel und Tante nach Paris, da er sich keine Hoffnungen mehr machte auf eine Ausbildung im immer aggressiver antisemitischen Klima Deutschlands. Anfang November 1938 erreichte ihn ein Brief seiner Mutter mit der Nachricht, dass die Familie aus Hannover deportiert worden war und sich, notdürftig untergebracht und ohne finanzielle Mittel, in Zbaszyñ befand. Von den 17 000 Ende Oktober aus Deutschland vertriebenen polnischen Juden gelangten 9000 in diese Kleinstadt nahe der deutsch-polnischen Grenze. Die massenhafte Ausweisung - die so genannte "Polenaktion" - war der "Auftakt zur Vernichtung" (Jerzy Tomaszewski).

Herschel besorgte sich einen Revolver, ging zur deutschen Botschaft und verlangte den Botschafter. Man verwies ihn an den Legationssekretär Ernst vom Rath. Herschel feuerte mehrere Schüsse ab, vom Rath erlag zwei Tage später den Verletzungen. Was folgte, ist bekannt: Die angeblich spontane Reaktion des "Volkszorns" - die gelenkt wurde durch Befehle an alle Partei- und Stapo-Stellen. Die Zahl der jüdischen Todesopfer schätzt man auf über 400.

Zwei Erkenntnisse, die Fuhrer vorlegen kann, sind wesentlich: Ernst vom Rath hätte aller Wahrscheinlichkeit nach gerettet werden können, doch gab es ein Geheimnis, das nicht publik werden sollte: seine Homosexualität. Sein Tod hingegen ließ sich propagandistisch nutzen: Vom Rath wurde zum deutschen "Märtyrer" gemacht, Herschel zum "jüdischen Mordbuben". Das zweite: Die pikante Geschichte von der Beziehungstat, die Michael Graf Soltikow in den 50er-Jahren so reißerisch anbot, ist aus der Luft gegriffen. Herschel war kein "rücksichtsloser Egozentriker", die Schüsse in der Botschaft waren ein Akt verzweifelten Widerstandes.

Aufschlussreich sind weiterhin die Kapitel, die Fuhrer der Planung des Schauprozesses widmet. Was minutiös inszeniert werden sollte, vorbereitet unter anderem mit dem eigens in Auftrag gegebenen "Gelbbuch über Grünspan und seine Helfershelfer" (1939), wurde von den Ereignissen des Krieges überholt. Als der "Fall Grynszpan" in den Akten verschwand, war bereits die "Endlösung" beschlossen, fand bereits der Massenmord statt. Herschel Grynszpans Spur verliert sich im KZ Sachsenhausen. Seine Eltern, die in der Sowjetunion überlebten, ließen ihn 1960 für tot erklären. Bei dem ominösen Brief, der im selben Jahr auftauchte, unterzeichnet mit "Herschel Feibel Grynszpan", handelt es sich um eine Fälschung.

Fuhrers Buch ist ein wichtiger Beitrag zu einem nach wie vor lückenhaft präsenten Kapitel der Zeitgeschichte. Die detaillierte Darstellung gibt Herschel Grynszpan ein Gesicht, befreit seine Biografie vom Dunst der Legenden. Irritierend allerdings ist, dass Fuhrer sich zwar auf französische und angelsächsische Arbeiten beruft, wichtige polnische Beiträge jedoch außer Acht lässt. Vor allem den 2012 erschienenen polnisch-englischen Band "See you next year in Jerusalem". Dass in Zbaszyñ kein "Lager" war, wie Fuhrer schreibt, in das die aus Deutschland Vertriebenen angeblich "gesteckt" wurden, und dass zweitens die örtliche Bevölkerung sehr wohl geholfen hat, geht aus den dort versammelten Erinnerungen eindeutig hervor.

Armin Fuhrer: Herschel. Das Attentat des Herschel Grynszpan am 7. November 1938 und der Beginn des Holocaust. Berlin Story, 365 S., 19,80 Euro.

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