Schicksalsregion Lothringen

Saarbrücken. Ende 1914 reiste der Berliner Internist Alfred Döblin von Berlin über Saarbrücken in das "lothringische Nest" Saargemünd. "Wer soll diese Gesellschaft in der Nähe aushalten. Sie ist grausig: Kleinbürger, die sich gegenseitig beklatschen, Geschwätz unter einander her tragen

Saarbrücken. Ende 1914 reiste der Berliner Internist Alfred Döblin von Berlin über Saarbrücken in das "lothringische Nest" Saargemünd. "Wer soll diese Gesellschaft in der Nähe aushalten. Sie ist grausig: Kleinbürger, die sich gegenseitig beklatschen, Geschwätz unter einander her tragen. Du weißt, dass das Fruchtbarste die Gesinnungsschnüffelei ist; das findet man hier aufs Schönste rechts und links", notierte er kurz nach Ankunft. Ein Verdikt, das er bald relativierte: "Ich wachse in das Milieu mehr hinein. (. . .) Die Gegend ist bildschön."

Die Gegend, in die seine Frau mit den Kindern bald nachfolgte, war das Lothringer Land, wo Döblin während des Ersten Weltkrieges zweieinhalb Jahre als Militärarzt in einer bayerischen Infanteriekaserne arbeitete - in einem Saargemünder Lazarett. "Die Leute hier kommen alle aus dem Argonnerwald", schreibt er im März 1915. Und Ende März 1916, als man in Verdun im Blut watete: "Mit den Ohren haben wir die Schlachten in Verdun hier mitgekämpft (. . .); ein ewiges Dröhnen, Bullern, Pauken am westlichen Himmel": die Front 110 Kilometer entfernt. Im August 1917 wurde er bis Kriegsende ins elsässische Hagenau strafversetzt, was dem da bereits an seinem "Wallenstein"-Roman Arbeitenden - das Manuskript nahm er bei jedem Bombenalarm mit in die Luftschutzkeller - wegen der Nähe zur Straßburger Bibliothek gelegen kam.

Für Döblin wurde Lothringen nicht wegen seines ärztlichen Einsatzes, sondern aus anderem Grund zum Trauma seines Lebens: Im Juni 1940 beging dort - dem kleinen Weiler Housseras - sein in Diensten der französischen Armee stehender Sohn Wolfgang (der sich nach seiner Einbürgerung Vincent nannte) beim Herannahen der Nazihorden Selbstmord. Ein Freitod, an dem sich der Vater indirekt schuldig fühlte. 17 Jahre später fand er selbst (und kurz darauf nach ihrem Selbstmord auch seine Ehefrau Erna) 1957 in Housseras am Westhang der Vogesen die letzte Ruhe. Lothringen sei für Döblin eine "Schicksalregion" gewesen, resümiert Ralph Schock in dem Band "Alfred Döblin: Meine Adresse ist Saargemünd", der die Lothringer Jahre ebenso facettenreich wie akribisch aufarbeitet.

Schocks Döblin-Buch besteht aus drei Teilen: Während der erste mittels Briefen und Materialien Döblins später in dem Roman "Bürger und Soldaten" mit aufgearbeitete Militärarztjahre in Saargemünd nachzeichnet - ergänzt um den Nachdruck der Kurznovelle "Gespenst vom Ritthof" und der glänzenden Groteske "Das verwerfliche Schwein", beide in Saargemünd entstanden - steht im zweiten Teil der Briefwechsel mit Anton Betzner im Vordergrund (1946 bis 1953). Abgedruckt werden 15 bislang unveröffentlichte Briefe an Betzner, in denen man allerdings eher etwas über Betzner erfährt. 1940 mit seiner Frau und dem jüngsten Sohn Stephan in die USA emigriert, war Döblin im Oktober 1945 heimgekehrt, um in Baden-Baden - Sitz der französischen Hauptverwaltung - mit Auftrag aus Paris eine neue Literaturzeitschrift ("Das Goldene Tor", 1946 bis 1951) aufzubauen, die "den Emigrierten wieder das Tor öffnen" sollte.

Döblins Redaktionskollege in Baden-Baden war bis Sommer 1949 Anton Betzner (1895-1976), für dessen literarisches Debüt (den Roman "Antäus") er sich als Juror 1927 nachhaltig eingesetzt hatte. Betzner, dessen Nachlass das Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass betreut, war 1945 aus Fechingen nach Baden-Baden gezogen.

In seinem umfänglichen Nachwort - dem dritten Teil des Bandes - legt Schock dar, dass sich beider Verhältnis in den 50ern umkehrte, als der Autor von "Berlin Alexanderplatz" weithin vergessen war. "Verraten und verkauft, jedenfalls vereinsamt und verbittert, krank und müde, wenngleich sehr wachen Geistes", so beschreibt ein Augenzeuge Döblin bei dessen Abfahrt nach Paris im April 1953. Betzner warb derweil für Döblins Werk, bemühte sich vergeblich, den Roman "Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende" an den saarländischen Verlag Minerva Verlag (Thinnes & Nolte) zu vermitteln.

Für Döblin verwendet hatte sich in ganz ähnlicher Form in den 20ern bereits der ihn verehrende Friedrich Binz (1897 bis 1932) aus Saarbrücken, dessen literarischer Nachlass 1985 - mangels öffentlichen Interesses - versteigert wurde. In diesem Punkt kommt Schocks verdienstvolle Spurensuche also leider zu spät. Obschon Döblins Lothringer Jahre lange bekannt sind, schließt dieses Buch eine literarhistorische Lücke.

"Alfred Döblin: Meine Adresse ist Saargemünd." Spurensuche in einer Grenzregion. Hrsg.: Ralph Schock. Gollenstein, 315 Seiten, 18 €

Lesung am Montag (16.11.)um 20 Uhr im Saarl. Künstlerhaus.

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