Das somnambule Säuseln der Erinnerung

Saarbrücken · „Wach auf und träume“ heißt die Autobiografie, aus der Hanna Schygulla am Karfreitag in der Alten Feuerwache las. Um ihren Ruhm ging es der Schauspiel-Ikone und Fassbinder-Muse dabei aber nicht.

 Hanna Schygulla, 70 Jahre, blickt ehrlich zurück. Foto: Jim Rakete

Hanna Schygulla, 70 Jahre, blickt ehrlich zurück. Foto: Jim Rakete

Foto: Jim Rakete

Sie ist in weich fließende Stoffe gehüllt, ein gemustertes Tuch wie einen Turban um den Kopf geschlungen. Und mit der ersten weit ausholenden Armbewegung, die ihren Wohnspagat zwischen Paris und Berlin illustriert, fegt sie klirrend ein Glas zu Boden. "Scherben bringen Glück", lächelt Hanna Schygulla und fährt entspannt fort - mit dem Lesen und Erzählen und dem assoziativen Aneinanderreihen der Stadien ihrer unzähligen "Verpuppungen", an deren Ende heute ein "vom Nimbus des Gewesenen" befreites "Ich bin!" steht.

Am Karfreitag las die Fassbinder-Muse und Schauspiel-Ikone des europäischen Autorenfilms in der überschaubar besuchten Alten Feuerwache aus ihrer Autobiografie "Wach auf und träume": Eine poetische, ehrliche und sympathisch uneitle Erinnerungsreise zu ihrer Geburt 1943 in Königshütte bei Kattowitz/Oberschlesien, Studentenzeiten in München, wichtigen Begegnungen und Erfahrungen. Fassbinder nimmt an diesem Abend unerwartet wenig Raum ein; überhaupt langweilt die große Schläfrige nicht mit chronologischen Fakten, geht nicht hausieren mit beruflichem Ruhm.

Lieber redet sie von guten Freundinnen, von der Wichtigkeit des Träumens und Wollens, von ihrem guten Appetit und der Fähigkeit, Erfolge loslassen und nach Niederlagen rasch wieder zu Kräften kommen zu können. Vor allem spürt sie all den Frauen nach, die verschachtelt in ihr stecken: vom Schwächling zum Kraftpaket, von der Frühentwickelten zur Spätzünderin, vom Möchtegern-Bub zur Westentaschen-Diva, vom Anti-Star zur Wanderin zwischen den Welten und vom Glamour-Girl zur Altenpflegerin ihrer Eltern - die Schygulla, eine lebendige Matrjoschka.

Nebenbei erfährt man, dass sie ihre Magisterarbeit über Karl Valentin geschrieben hat, keine dicken Bücher mag und Dinge schlecht wegwerfen kann; dass unfertige Städte ihrem Lebensgefühl entsprechen und sie anfällig ist für Versuchungen, ohne Suchtpotenzial zu entwickeln. Und wer weiß: Vielleicht ist ihr berühmtes somnambules Säuseln nur das sprachliche Merkmal jener traumwandlerisch sicheren Gelassenheit, mit der sie durch den Nebel der Ikonenverehrung gleitet.

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