Das Schattenreich ist tröstlich

Saarbrücken · Mit Standing Ovations verabschiedete sich das Saarbrücker Publikum am Samstag von der Ballettchefin Marguerite Donlon. Der zweiteilige Tanzabend „Anastasia/Shadow“ besitzt beachtliches Format.

 In „Shadow“ tanzen Hsin-I Huang und Takayuki Shiraishi gegen das Scheitern. Foto: Martina Pipprich

In „Shadow“ tanzen Hsin-I Huang und Takayuki Shiraishi gegen das Scheitern. Foto: Martina Pipprich

Foto: Martina Pipprich

Tief durchatmen. Die gedämpfte Stimmung bleibt. Wie viele Zuschauer im ausverkauften Staatstheater (SST) werden das am Samstagabend ähnlich erlebt haben? Es wäre zu einfach, dies mit den harten Themen des Abends erklären zu wollen: Wahnvorstellungen, Lebens- und Schaffenskrisen, Tod. Nein, es galt nach dieser Premiere mehr zu verarbeiten als die Schonungslosigkeit zweier Choreografien. Die eine, "Anastasia", 1967 uraufgeführt und tanzhistorisch wertvoll, die andere brandaktuell und kostbar: "Shadow".

Der erste Teil des Abends gehört Kenneth Mac Millans "Anastasia". Das Stück handelt von Anna Anderson, die sich für die letzte Überlebende des Massakers an der Zarenfamilie hielt, und ist ein narratives, für heutige Verhältnisse braves, aber eindringlich bebildertes Psychodrama. Donlon stellt dieser einstigen Pionierarbeit - MacMillan arbeitete mit Filmausschnitten, schob Zeit- und Bewusstseinsebenen übereinander - ein abstraktes Körper-Gedicht zur Seite. "Shadow" spürt den Erschöpfungen von drei Künstlern nach, die Suizid verübten: von Nirvana-Sänger Kurt Cobain und den Schriftstellerinnen Virginia Woolf und Sarah Kane. Donlon liefert eine dunkel funkelnde Studie über Verletzlichkeit und Widerstandskraft, reif und souverän.

Nach zwölf Jahren am SST sagt die Meisterin von Humor und Happiness also auf ungewöhnlich ernste Art Adieu. Standing Ovations gab es dafür. Aber kein Rosen-Meer, keinen Bravo-Rausch, keine Abschieds-Ekstase? Auch keine offiziellen Würdigungen, von Minister- oder Theaterseite. Donlon hat Letzteres ausdrücklich so gewollt. Bis zu ihrer vorzeitigen Vertragsauflösung 2013 war sie Ballettchefin, ein Publikumsliebling, ja ein Star. Ganz in schwarz, als Witwe, steht Donlon am Samstag auf der Bühne. Sie hat ihren Mann Claas Willeke kürzlich bei einem Unfall verloren. Seine durch Textfetzen aufgerissene Musik bildet den atmosphärischen Nucleus von "Shadow", den Sam Auinger kongenial ergänzte. Doch Donlon muss jetzt auch ihre zweite große Liebe lassen: das Saarbrücker Publikum. Der Premierenfeier bleibt sie fern, ihr handschriftlich verfasster Brief wird verlesen und endet nach Dankesworten an Team und Tänzer mit einer Liebeserklärung: "And now at you my dear audience: I love you." Zuvor hatte Intendantin Dagmar Schlingmann lobend gesprochen, aber auch die "Zwistigkeiten" erwähnt und endete ohne einen einzigen falschen Ton mit: "Ich verneige mich vor ihrer Arbeit." Das war menschlich, stil- und würdevoll.

Was zum großen Format der zweiteiligen Produktion passte. Die für Saarbrücken rekonstruierte Originalchoreografie von "Anastasia" bringt die beglückende Begegnung mit einer charismatischen Tänzerin. Laura Halm gestaltet die Titelrolle mit einer staunenswert elementaren Intensität, wechselt zwischen dem expressiv-pathetischen Vokabular des deutschen Ausdruckstanzes und elegantem Spitzentanz. Für MacMillan besitzt Anna Anderson keinerlei Ambivalenz. Hochstaplerin oder nicht? Diese Frage blendet er aus, er konzentriert sich auf die Seelenqualen einer traumatisierten Außenseiterin. Ideal fügt sich Bohuslav Martinus kantige sechste Symphonie ins bedrängende Gesamtbild (musikalische Leitung Thomas Peuschel). Anastasia agiert in einer abweisenden Klinik-Atmosphäre (Bühne und Kostüme: Bob Crowley). MacMillan schickt ein grimmiges Bolschewiki-Exekutionskommando, Rasputin oder trippelnde Dämchen. Man erlebt sie heute als altbackene Illustrationen.

MacMillans behauptetem Realismus folgt Donlons Entrückung aus authentischen Lebenszusammenhängen. Sie führt uns in eine fremde, mit geometrischen Zeichen ausgestattete Innenwelt in harten Schwarz-Weiß-Kontrasten mit viel Glas, Neonlicht und transparenten Fahnen (Bühne: Donlon/Christian Held). Zunächst windet sich nur Virginia Woolf (Lorène Lagrenade) aus einer Stoffbahn. Befreiung, Emanzipation, ihr Thema. Unsere Zeitgenossen Cobain (Marioenrico D'Angelo) und Kane (Katherine Lake) erschöpften sich hingegen an der Last der freiheitlichen Ich-Findung. Ihre Beschädigungen drängen durch gebrochene, ruckhafte Bewegungen nach außen. Sie stemmen sich gegen den offenen Raum. Auch das Ensemble schickt Donlon auf die Bahn des Scheiterns an einer schiefen Wand. Nicht-Ankommen scheint der Fluch aller. Düster-grau und aufgeritzt die Straßenkleidung (Kostüme: Laura Theiss).

Dieses Szenario könnte leicht in plumper Trostlosigkeit enden. Hätte Donlon nicht drei zentrale Schatten erfunden. Keine Dämonen, sondern fürsorgliche Todesengel, die sich harmonisch und fließend mit den Künstlern verknoten. Wobei sich ein sonderbares, rätselhaftes Flirren entwickelt: Diese Annäherung macht Angst? Letztlich ist Donlons Schattenreich rein und tröstlich.

Nächste Termine: 8.2., 15.2., 19.2., 15.3.; Karten unter Tel.: (06 81) 3 09 24 86.

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