Berliner Herzflimmern

Merzig · Es fetzt nicht, es knallt nicht – es berührt. Doch dank druckvoller Revue-Auftritte mit steilem Sexappeal wird das Broadway-Musical „Cabaret“ (1966) im Merziger Zeltpalast trotzdem nicht zum Betroffenheitstheater über Deutschland kurz vor der NS-Verdunkelung.

 Scharfe Szenen im Zeltpalast, hier mit Susanna Mucha, Andrea Pagani und Maja Sikor (v.l.). Fotos: rup

Scharfe Szenen im Zeltpalast, hier mit Susanna Mucha, Andrea Pagani und Maja Sikor (v.l.). Fotos: rup

 Quasselstrippe und schutzbedürftige Punk-Lady: Vasiliki Roussi als Sally Bowles.

Quasselstrippe und schutzbedürftige Punk-Lady: Vasiliki Roussi als Sally Bowles.

Das grelle Großstadt-Personal des Malers Otto Dix stand Pate: ins Groteske getriebene Gestalten. Die Männer tragen verschlissene Mäntel über Smoking-Westen, die Weiber Strass auf faltiger Haut. Jawohl, die "goldenen" Twenties in Berlin bargen mehr Billigglitter denn Glanz, mehr Not denn Brot, mehr brutalen Puff-Sex denn laszive Libertinage. In Merzig sehen wir die Dix-Szenarien mitunter als Projektionen in den Fenstern des Kitkat-Clubs oder von Fräulein Schneiders Pension. Selbst die dunkelroten Raff-Vorhänge sind im Merziger Zeltpalast nicht echt, sondern fotografische Flachware. So hält sich auch das Einheits-Bühnenbild (Sandra Fox/Sabine Mann) an die Vorgabe, möglichst viel von dem zu vermeiden, was man üblicherweise mit der Vergnügungs-Maschine Musical verbindet: Bonbonfarbene Illusion, träger Schwulst und schäumende Showeffekte.

Wiewohl sich Regisseur Holger Hauer ziemlich dicht an das hält, was wir an Filmbildern aus Bob Fosses Oscar-überhäuftem Werk mit Liza Minnelli im Kopf haben, wagt er eine recht eigenständige Version. Sie überzeugt mit Mut zu extremen Kontrasten zwischen Komik, Realismus und Albtraum und drastischer, bis zur Obszönität gesteigerter Erotik. Symbolfigur dafür: der Conferencier. Mit dem stämmigen Andrea Pagani ist die Rolle, die einst der schlangenartige Joel Grey mit mephistophelischem Wolfsgrinsen spielte, in Merzig nahezu a-typisch besetzt.

Bereits im "Welcome"-Song hinkt Pagani uns - eine Proletariergestalt im Netzunterhemd - in groben Schuhen entgegen. Gleichwohl trägt er Schwuchtel-Schminke und Federboa und becirct mit gelenkig-geschmeidiger Stimme. Ein Versehrter des Weltenbrandes von 1914/18? Zumindest einer, der sich nicht aus reiner Vergnügungslust in den Kitkat-Club verirrt, wie auch die sechs Mädels nicht. Es sind dies nicht die üblichen Revuetanz-Püppchen, sondern Porno-Griff versierte Prostituierte. Busen und Pobacken quellen aus sehr engen schwarzen Corsagen, sie winden sich und spreizen die Beine bis zur Schamgrenze. Grimmig-zackig, nicht neckisch-frivol erledigen die Merziger Mädels ihr Animations-Geschäft. Sehr dicht dran an den Kunden im Zelt, denn die vorderen Plätze sind als Tische im Kitkat-Club Teil des Bühnengeschehens, eine ebenso naheliegende wie stimmungssteigernde Idee.

Hauer arbeitet den Zusammenprall von Sein und Schein als Leitmotiv heraus. Fräulein Kost (Edda Petri) tut etepetete, geht aber anschaffen. Ernst Ludwig (Sven Fliege) wirft sich für ein sauberes Vaterland ins Zeug, schmuggelt aber Luxus-Schnickschnack. Und der Sally-Bowles-Verehrer und Moralist Cliff Bradshaw (Alen Hodzovic) verliert schnell die Kämpferlust, wenn es in Deutschland ungemütlich wird.

Derweil tanzt eine angriffslustige Truppe im Club wie um ihr Leben, zumindest um ihr täglich Brot. Es sind diese mitreißenden Da-geht-die-Post-ab-Sequenzen (Choreografie: Christopher Tölle), die dem Abend Energiestöße verpassen, ihn vor allzu großer Kammerspiel-Geruhsamkeit bewahren und vorm sentimentalen Gemütskitsch, den die Story vom Club-Girl Sally (Vasiliki Roussi) auch bereit hält.

Romanautor Christopher Isherwood lieferte die autobiografisch verankerte Vorlage ("Goodbye to Berlin", 1939): Zwei Liebesbeziehungen werden von der heran nahenden NS-Katastrophe weggespült. Sally hält sich - in Merzig ganz konkret - die Augen zu vor der "Politik" und treibt mit dem Kind des Amerikaners Cliff auch die Aussicht auf ein biederes Familienglück in den USA ab. Das späte Fräulein Schneider (Petra Lamy), gerade mit einem Juden (Reinhard Karow) verlobt, gibt aus Furcht vor Repressalien sofort wieder auf.

Roussi lässt ihre Sally widersprüchlich und reich schillern: Meine Damen und Herren, da ist sie, in Merzig, die Quasselstrippe, die schutzbedürftige Punk-Lady, der Kobold, die abgebrühte Kindfrau. Diese Sally hat eine ebenbürtige Mitspielerin: Die aus dem Saarland stammende Petra Lamy durchglüht die Rolle einer mit Resolutheit gepanzerten Lebensängstlichen, zeichnet Fräulein Schneider psychologisch fein. Es sind denn auch die "Verzicht"-Songs der beiden großartigen Darstellerinnen, die berühren. "But now it's over" - den legendären Song "Mein Herr" spuckt und würgt Roussi mit einer Mischung aus Selbstverachtung und Lebenserhaltungs-Trotz heraus. Und Lamy steigert ihre Verzweiflung über Einsamkeit und NS-Bedrängnis zu einem Glanzpunkt: "Wie geht es weiter?" Brutal und unmenschlich, das schleudert uns Regisseur Holger Hauer entgegen.

Während er den ersten Teil plakativ freischaufelt von NS-Eintrübungen, lässt er es im zweiten Teil bitterböse krachen. Auch die Live-Band unter Leitung von Achim Schneider, die zunächst munter-melodisch aufspielt, schraubt sich in immer schrägere Klänge. Es ist ein bedrohlicher Schock-Moment, wenn der Conferencier im Schlussbild seinen Mantel öffnet: Er trägt die Uniform eines jüdischen KZ-Häftlings. Dieser düstere Ausklang ist für das "Juxbuden"-Genre Musical wahrlich ein Wagnis. Trotzdem trägt "Cabaret" im Zeltpalast nicht die Zipfelmütze des Betroffenheits-Theaters. Es bleibt bei dem, was wir von "Musik & Theater"-Chef Joachim Arnold gewöhnt sind: bei Unterhaltung mit Haltung, bei souveränem Entertainment.

Termine: 16., 18., 23. bis 28. August täglich. So, 16 Uhr; ansonsten 20 Uhr. Tickets: Tel. (06 51) 9 79 07 77.

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