XXXX Ankämpfen gegen die Stille
Gelsenkirchen · Seit fast zwei Jahren ist Peter Neururer (61) ohne Trainerjob im Profifußball. Der frühere Saarbrücker will mit aller Macht zurück. Sein Kampf um die Rückkehr ist auch ein Kampf gegen die Antriebslosigkeit.
Kurz nach dem Aufstehen geht Peter Neururer in die Küche seines Hauses in Gelsenkirchen und ist irritiert. Er stellt fest, dass etwas nicht wie immer ist: Es sind keine Apfelsinen da. "Da drehe ich am Rad", ruft Neururer, der kurz ziemlich aufgebracht ist. Seine Frau Antje sagt: "Hast du nicht alle aufm Zaun? Worüber reden wir hier eigentlich?" Neururer muss über sich selbst lachen.
Seit fast 30 Jahren, fast so lange wie Peter Neururer sein Geld als Fußballtrainer verdient, geben Rituale seinem Leben eine Struktur. Am dringendsten benötigt er sie in solchen Phasen wie jetzt, wo er ohne Trainerjob ist. Jeden Morgen bekommt er von seiner Frau genau eine Tasse Kaffee, etwas Frühstück und ein Glas mit 0,3 Litern frisch gepresstem Orangensaft. "Das muss so sein", sagt er. Am Vortag war Antje allerdings erkältet und konnte keine Apfelsinen kaufen.
"Als Fußballer hast du so verschiedene Rituale. Wenn ich jetzt den ganzen Tag zu Hause bin, will ich die gleichen Rituale auch bei uns zu Hause haben", sagt Neururer. Seit der Trennung vom VfL Bochum vor fast zwei Jahren ist er ohne Anstellung im Profifußball . Neururer war unter anderem Trainer des 1. FC Saarbrücken , des 1. FC Köln, von Hannover 96 oder Schalke 04 , in über 200 Bundesligaspielen stand er an der Seitenlinie. Er ist glücklich verheiratet, seine Kinder sind gesund, er hat Autos und auch sonst viel Geld. Darum geht es ihm längst nicht mehr.
Neururer fährt mit seinem dunklen Geländewagen zum Fitnessstudio in der Nähe. Der Wagen ist relativ neu, auf seinem Kennzeichen hat er sich die Zahl 15 eingravieren lassen: "Weil ich auf die 15. Station im Profifußball warte." Im Sommer 2012 war er auf seinem Stamm-Golfplatz mit einem Herzinfarkt zusammengeklappt, zu der Zeit war er dreieinhalb Jahre ohne Trainerjob. "Wenn ich im Amt gewesen wäre, wäre das nicht passiert", sagt er. Ins Fitnessstudio geht er seitdem auch, um fit zu bleiben, aber vielmehr, um eine weitere Beschäftigung zu haben. Zwei Mal Zirkeltraining pro Woche sind zwei Stunden weniger, in denen er sich über fehlende Apfelsinen aufregen muss.
Herzinfarkt überstanden
Neururer ist 61 Jahre alt und er führt mal wieder einen Kampf um die Rückkehr auf die Trainerbank, um Anerkennung, Aufmerksamkeit und gegen die innere Leere. "Mir fehlt eine Aufgabe, mir fehlt es, im Profibereich gefragt zu sein", sagt er: "Ich liebe den Profibereich." Dass diese Liebe vielleicht nie mehr erwidert werden könnte, hat ihn schon vor rund vier Jahren einmal krank gemacht. Nach seinem Herzinfarkt hatte ihn 2013 etwas überraschend der VfL Bochum noch mal verpflichtet. Jetzt stellt sich für ihn die Frage, ob er sich noch einmal selbst helfen kann, indem ein Club seine Hilfe benötigt.
Nach rund 30 Minuten lockerem Training an mehreren Geräten und auf dem Ergometer geht Neururer zu seiner Trinkflasche. Außer ihm sind fast nur Rentner im Raum. In einem großen Getränkehalter sind die Flaschen der Trainierenden in Kreisform angeordnet. Damit es nicht zu Verwechslungen kommt, stehen Namen wie "Werner" oder "Wolfgang" drauf. Auf Peter Neururers Flasche steht in Krakelschrift mit schwarzem Filzstift: Trainer.
"Fußball war und ist für mich immer noch Lebensinhalt, ne?", sagt Neururer, als ob er dafür eine Bestätigung bräuchte. "Bei allen Dingen, die glücklicherweise in der Familie laufen, ist Fußball für mich die Nummer eins." Neururer könnte stundenlang darüber reden. Neururer ist eloquent, redet schnell und hält bei Laune. Ein Gespräch mit ihm ist ein Erlebnis.
Markige Sprüche ziehen sich wie ein roter Faden durch sein Leben. Viele sind witzig, manche einigen Fans noch heute unvergessen. Das zählt aber alles nicht mehr viel. Denn im Moment hört kaum noch jemand zu. Selbst im Fitnessstudio, an den Geräten, redet er fast permanent. Ob als Experte des TV-Senders Sport1 oder in Zeitungen: Neururer antwortet, wenn er gefragt wird. Seit rund einem Jahr teilt er sich auch regelmäßig über Twitter mit. Für Neururer ist das Anrennen gegen die Stille, die er selbst so schwer erträgt, auch Mittel zum Zweck im Wettlauf mit der Zeit: "Insofern habe ich das Glück, im Vergleich zum einen oder anderen, dass ich immer noch weiter in der Öffentlichkeit bin, also nicht in Vergessenheit gerate."
Neururer sieht noch fast genauso aus wie mit Mitte 30, als seine Trainerkarriere bei seinem Herzensclub Schalke 04 Fahrt aufnahm. Der Schnauzer ist geblieben, nur das Haar ist lichter und grauer geworden. Er würde auch als Sportdirektor bei einem Proficlub arbeiten, sagt er. Selbst seiner Frau gehe er in seiner Arbeitslosigkeit teilweise auf die Nerven. "Ich rege mich schon über Fliegen an der Wand auf, die gar nicht da sind", sagt er lachend: "Und da sagt meine Frau auch mal: Jetzt geh Golf spielen!"
Der Golfclub Haus Leythe in Gelsenkirchen ist neben dem Fitnessstudio und Motorradtouren auf seiner Harley im Moment eine weitere Konstante in seinem Leben. Bevor es auf den Platz geht, wärmt sich Neururer an diesem Morgen im kleinen Restaurant des Clubs auf. "Krieg ich noch so ein Ding hier, Uschi?", fragt er die Kellnerin und meint seinen Lieblingskaffee, einen Espresso Macchiato. Außer Neururer sind auch hier fast nur Rentner im Raum. Am Nachbartisch sitzt Erwin Kremers , 67 Jahre alter ehemaliger Nationalspieler, um den es längst still geworden ist. Anders als Neururer hatte er es schon als Spieler nach oben geschafft.
Peter Neururer aber setzte alles auf eine Trainerlaufbahn. Nachdem er sich früh verletzt hatte, schaffte er es nicht über die Amateur-Oberliga hinaus. Gemeinsam mit Christoph Daum zählte er Ende der Achtziger zu den ersten Trainern, die auch ohne große Karriere ihren Weg in den Profifußball fanden. Kaum jemand kannte ihn, Neururer musste das ändern. "Die einzige Möglichkeit, um Aufmerksamkeit zu bekommen, war für uns, nach außen Theater zu machen", sagt er.
Daum wird in der Folge deutscher Meister und fast Bundestrainer, bis herauskommt, dass er gekokst hat. Neururer wird zum Feuerwehrmann, weil er von Clubs verpflichtet wird, für die es meist zu spät scheint, die er aber noch vor dem Abstieg rettet. "Einmal in dieser Schiene drin, kommst du nicht mehr raus", sagt er: "Am 11. September 2001 waren Feuerwehrmänner in den USA Helden. Als Held habe ich mich aber noch nie empfunden."
In Saarbrücken, wo er im Juli 1991 begann, war er ein Held, zumindest zeitweise. 1992 stieg der FCS unter Neururer in die Bundesliga auf, allerdings danach auch wieder ab. Neururer ist der letzte Erstliga-Trainer des Vereins. Der VfL Bochum war der einzige Club in seiner Karriere , bei dem er länger als zwei Jahre Trainer war. Für Neururer heißt das, dass er in einem Monat schon zum dritten Mal in seiner Cheftrainer-Laufbahn länger ohne Job sein könnte, als er es bei fast all seinen Clubs jemals war. Am 9. Dezember 2014 war er vom VfL beurlaubt worden. Seitdem hat sich auch sein Golfspiel verbessert. "Ich habe mich lange geweigert. Haut ab, habe ich gesagt, damit kann ich anfangen, wenn ich 80 bin", erzählt er.
Mittlerweile steht er gemeinsam mit seinem Bruder Günter und den Kumpels Uli und Werner auf dem Grün. Werner ist Fan von Borussia Dortmund und hat einen ziemlichen Lauf, selbst misslungene Schläge kommen irgendwie ans Ziel. Neururer prustet: "Das ist das Zeckenglück." Ihn selbst scheint das Glück in diesem Spiel dagegen verlassen zu haben, sein Ball landet im Bunker. "Wenn selbst optimale Schläge nicht reichen, das ist wie . . . naja, besser nicht", grinst er.
Handy als Rettungsanker
Wenn er auf den Wegen zwischen den Löchern nicht gerade telefoniert oder redet, zieht er an seiner Elektro-Zigarette mit Cappuccino-Geschmack. "Das einzig Gute, was er nach dem Herzinfarkt gemacht hat, ist mit dem Rauchen aufzuhören", sagt sein Bruder, der Peter nicht mal äußerlich ähnelt. Er könne ja einfach mit dem Trainersein aufhören, er habe ein wunderschönes Leben, "er könnte seine Freizeit genießen. Aber das muss man auch können".
"Aus, aus, auuus, das Spiel ist aus!", dröhnt es plötzlich aus Neururers Hosentasche. Es ist der Klingelton seines Handys, schon wieder ruft jemand an. "Die österreichischen Freunde!", ruft Neururer, kurz bevor er abnimmt. "Servus Burschen! Na, habt ihr schon Schnee?" Am Apparat ist ein Freund aus Österreich, "der Präsident des österreichischen Skiverbands", sagt Neururer. Kurz nach dem Telefonat schlägt er wieder einen Ball ins Rough. "Eine Scheiße ist das!", ruft er.
Neururer ist der einzige auf dem Golfplatz, der regelmäßig flucht und telefoniert, eigentlich sind hier keine Handys erlaubt. "Es gibt da Sonderregeln", sagt sein Bruder. Das werde hier so akzeptiert, bestätigt Peter Neururer : "Weil du ständig hoffst und erwartest, dass jemand anruft. Wenn du nicht im Amt bist, ist das Handy dein Rettungsanker ."
Zum Thema:
Zur Person Peter Neururer hat in seiner Karriere bisher bei 14 Proficlubs als Trainer gearbeitet. Ein Überblick über seine Cheftrainer-Stationen im deutschen Profifußball : Rot-Weiß Essen (September bis November 1987), Alemannia Aachen (Januar 1988 bis April 1989), FC Schalke 04 (April 1989 bis November 1990), Hertha BSC (März bis Mai 1991), 1. FC Saarbrücken (Juli 1991 bis Juni 1993), Hannover 96 (November 1994 bis Mai 1995), 1. FC Köln (April 1996 bis September 1997), Fortuna Düsseldorf (April bis Juni 1999), Kickers Offenbach (Oktober 1999 bis August 2000), Rot Weiß Ahlen (September 2000 bis November 2001), VfL Bochum (Dezember 2001 bis Juni 2005), Hannover 96 (November 2005 bis August 2006), MSV Duisburg (November 2008 bis Oktober 2009), VfL Bochum (April 2013 bis Dezember 2014). dpa
