Das begnadete Sprint-Talent hält noch einen Rekord

Saarbrücken · In einer Serie trifft sich die SZ-Sportredaktion mit deutschen Medaillengewinnern bei Olympischen Spielen, die zugleich eine besondere Beziehung zum Saarland haben. Teil 9 der Serie: Hans-Joachim Reske (76).

In diesem Sommer ist es 56 Jahre her, dass Hans-Joachim Reske bei den Olympischen Spielen in Rom mit der deutschen 4x400-Meter-Staffel die Silbermedaille gewann. Und noch heute erreichen den ehemaligen Weltklasseläufer, der an diesem Samstag seinen 76. Geburtstag feierte, Autogrammwünsche. "Neulich wollte jemand aus Warschau, der ein Olympia-Album auf dem Flohmarkt gefunden hatte, eins", erzählt Reske, den alle nur unter dem Rufnamen Jochen kennen.

Reske wohnt mit seiner Frau Brigitte seit 1968 in Nußloch bei Heidelberg. Dort hatte er damals eine Arbeitsstelle gefunden. Und dort haben die Reskes mittlerweile ihr Haus verkauft und im Zentrum eine Mietwohnung bezogen. "Das ist hier fast wie am Mittelmeer", sagt er. Das Wetter ist meist gut, es regnet ganz selten, das Klima ist sommerlich. Drei oder vier Mal im Jahr ist er in der alten Heimat Saarbrücken. Treffen mit alten Sportkameraden gibt es immer noch regelmäßig, daran haben auch die Frauen der Ex-Spitzensportler als treibende Kraft einen großen Anteil.

Dass Jochen Reskes Familie ins Saarland kam, lag daran, dass sein Vater eine Stelle bei einer Bank gefunden hatte. 1940 in Bartenstein in Ostpreußen (heute das polnische Bartoszyce) geboren, kam Reske nach dem Krieg ins Saarland, wohnte mit seinen Eltern in Neunkirchen und Homburg. Jochen besuchte die Volksschule in Saarbrücken, dann die Realschule. Dort gab es den sogenannten "Schlepp-Paragrafen", das heißt, dass man schlechte Noten in manchen Fächern nicht mit anderen Noten ausgleichen konnte und mitschleppen musste. So zog es Reske mit 17 Jahren nach Landau. Er lernte seine spätere Frau Brigitte kennen, machte Abitur. "Dort konnten sie mich nicht mehr durchfallen lassen", erinnert er sich und lacht.

Die Abiturprüfung absolvierte Jochen Reske nämlich schon als frischgebackener Olympiamedaillen-Gewinner. 1960 in Rom gewann er, damals beim SV Saar 05 Saarbrücken aktiv, mit der deutschen 4x400-Meter-Staffel die Silbermedaille. Die liegt heute in einer kleinen Holzvitrine, die seine Enkelin mit vielen anderen Auszeichnungen des Opas eingerichtet hat.

Dabei war Reske nie der Trainingsfleißigste. "Ich habe mich im Training nie kaputtgemacht, ich war einfach ein wahnsinniges Talent", erzählt er. Und man glaubt es ihm sofort, es klingt überhaupt nicht unbescheiden.

Mit 15 Jahren war Reske als Sprinter in die Leichtathletik eingestiegen. Und mit den 400 Metern hatte er sich ausgerechnet eine Spezialstrecke ausgesucht, die auf den letzten Metern richtig wehtut. Keine klassische Sprintdistanz, keine Mitteldistanz. "Da heißt es, sich durchzukämpfen. Die Übersäuerung kommt einfach, da kannst du nichts machen", berichtet Reske und meint mit einem Schmunzeln: "Auf den letzten Metern kannst du mit 'ner nassen Bild-Zeitung totgeschlagen werden."

Reske war einer der ersten Weltklasse-Läufer, die mit Brille auf die Startbahn traten. Die Staffel 1960 bestand aus Reske, Manfred Kinder , Johannes Kaiser und Carl Kaufmann. Es war eine verschworene Gemeinschaft. "Wir haben wenig von Rom gesehen, waren sehr fokussiert, waren auch bei der Eröffnungsfeier nicht dabei", kramt der 76-Jährige in seinen Erinnerungen. Für den gerade erst 20 Jahre alt gewordenen Reske war es erst der dritte Länderkampf, am Ende fehlten drei Zehntelsekunden zu Gold, das sich die US-Amerikaner in Weltrekord-Zeit schnappten. Aber auch die Deutschen lagen mit ihrer Zeit noch stolze sechs Zehntel unter dem alten Weltrekord. Gestoppt wurde das Ganze von Kampfrichtern, die auf einer Treppe an der Ziellinie saßen. Mit Stoppuhren. Gelaufen wurde noch auf Asche.

Kampfrichter und Funktionäre konnten damals ganz schön stur sein. Das erlebte Reske 1963 bei einer kuriosen Anekdote bei der Universiade, den Hochschulmeisterschaften im brasilianischen Porto Alegre. Die Richter hatten ihn über die 200 Meter in 19,7 Sekunden gestoppt. Das wäre ein neuer Fabel-Weltrekord gewesen. Reske war sofort klar, dass etwas nicht stimmte. Er ging zu den Kampfrichtern und hakte nach. "Die hatten aber zu dritt drei Mal dasselbe gestoppt und bestanden auf der Zeit. Was ich mir einbilden würde, hieß es. Dann habe ich gesagt, sie sollen doch mal die Bahn nachmessen." Und siehe da, die Strecke war tatsächlich 20 Meter zu kurz.

Es waren noch andere Zeiten, auch 1960 in Rom. Im Olympischen Dorf war zwischen den Unterkünften der Männer und Frauen ein hoher Zaun. Und es waren die ersten Spiele, die live im Fernsehen übertragen wurden. "Meine Eltern und die Schwiegermutter haben sich extra einen Fernseher gekauft", berichtet Reske, dessen verstorbener Bruder Uli ebenfalls ein guter Sprinter war.

Zurückgekehrt aus Rom, kam es dann in Landau zur etwas skurrilen Situation, dass der frischgebackene Silbermedaillen-Gewinner seine praktische Prüfung zum Sport-Abitur ablegen musste. Vor den Argusaugen von drei Prüfern. Klar, dass er bestand. Zumal auch noch ein Empfang der stolzen Schule anstand. In Landau spielte Reske auch Handball. Zusammen mit dem "blonden Blitz" Armin Hary . So wunderte sich so mancher Gegner des ASV Landau, wer denn diese beiden pfeilschnellen Handballer sind.

1962 bei den Europameisterschaften in Belgrad holte Reske Bronze im 400-Meter-Lauf und Gold mit der deutschen 4x400-Meter-Staffel. Einer der Teamkollegen war Wilfried Kindermann, später Professor, Chef des Instituts für Sport- und Leistungsdiagnostik an der Universität des Saarlandes und Arzt der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. 1964 nahm Reske schon an den vorolympischen Wettbewerben in Tokio teil. Die Teilnahme an Olympia in Japan verpasste er dann aber. "Ich wollte meinem Trainingskollegen Armin Baumert zeigen, dass ich auch ein guter Weitspringer bin. Ich wollte ihn schlagen. Und ich hab ihn geschlagen", erzählt Reske mit einem breiten Grinsen. Beim Duell gegen den späteren Sport-Spitzenfunktionär zog sich Reske aber einen Muskelfaserriss zu. "Ich habe das schnell abgehakt und mich aufs Examen konzentriert. Ich war ja nicht abhängig vom Sport. Hallenwettkämpfe habe ich zum Beispiel im Leben nur ein, zwei gemacht."

Nach dem Abitur 1961 studierte der Leichtathlet zuerst in Saarbrücken ("um nicht zur Bundeswehr zu müssen") und dann an der Uni in Köln, wurde Diplom-Kaufmann und arbeitete nebenher bei Bayer in Leverkusen. Nach der Geburt der ersten Tochter fand Reske 1968 eine Arbeitsstelle in Heidelberg. Zuvor hatte er seine Sportkarriere schon 1965 beenden müssen. "Die finanziellen Gründe führten immer dazu, dass man wegen Beruf und Studium aufhören musste."

Der Sport hat ihn geprägt, noch heute geht er mehrmals die Woche raus. Schnelles Gehen statt Laufen, der Sport wird zwar immer weniger, er ist aber immer noch im Alltag drin. Von großen Gebrechen und negativen Nachfolge-Erscheinungen der Karriere im Hochleistungssport ist er verschont geblieben. Aus den 77 Kilo Kampfgewicht, sein niedrigster Wert im Leben, sind mittlerweile 97 geworden, berichtet er und klopft sich schmunzelnd auf den Bauch: "Damit laufe ich bergab dann schneller. Du darfst mit Sport auch nicht aufhören. Durch den Sport kennt man seinen Körper sehr gut", sagt der Mann, der zwei Töchter und drei Enkeltöchter hat.

In seiner Sportkarriere blieb der Läufer auch ohne große Verletzungen. Nur mit 70 Jahren riss eimmal die Achillessehne - als er Wein in den Keller bringen wollte.

Reske arbeitet später auch in Heidelberg als Leichtathletik-Trainer, wie schon seine Frau in Leverkusen. Beruflich war er bis 1992 Angestellter, ehe er Freiberufler wurde. "Viel Arbeit, aber es hat Spaß gemacht." Bis 2006 arbeitete er Vollzeit, bis 2015 sogar noch nebenher am Mannheimer Zimmertheater . Dort kümmerte sich Reske um Firmen- und Personalkosten. Schon zuvor hatte er sich ein großes Netzwerk aufgebaut, war Vertriebsleiter, kaufmännischer Direktor. Reske fungierte oft als eine Art Interims-Geschäftsführer bei mittelgroßen Firmen - um alles für den jeweiligen Nachfolger vorzubereiten.

Auch im Fußball hatte der ehemalige Saarbrücker Ämter inne. Als Freund von Wilfried Kindermann war er 2004 und 2005 dessen Assistent im WM-Komitee. Vor der Weltmeisterschaft in Deutschland kontrollierte er Stadien, Trainingslager, Krankenhäuser. Alles aus medizinischer Sicht. Dass etwa bei einem Herzinfarkt in einem Stadion an jeder Stelle innerhalb von drei Minuten Hilfe vor Ort sein kann.

Schon 1962 war Reske, der nie richtig saarländisch sprechen konnte, zu einer ganz besonderen Ehre gekommen. Die Fußballer des SV Saar 05 hatten vier Wochen lang keinen Trainer. Zwischen dem Abschied von Hellmut Meidt und dem Amtsantritt des neuen Trainers Otto Knefler klaffte die Lücke von einem Monat. Also wurde der erfolgreichste Leichtathlet auf dem Kieselhumes gefragt. In den ersten zwei Einheiten wurde viel gelaufen, Krafttraining gemacht. "Bis dann vor dem dritten Training einer, ich glaube, es war Kurt Clemens, kam und gesagt hat: Reske, wir machen jetzt mal was anderes. Wir spielen Fußball - und du schaust einfach nur zu", berichtet der Olympia-Teilnehmer sichtlich erheitert. Noch heute ist er Ehrenmitglied bei Saar 05. Und noch heute schaut er in seiner Lokalzeitung bei den Tabellen als erstes, wie Saar 05 gespielt hat und wo die 05er in der Tabelle stehen. Heute wird er sich da richtig freuen können - über den zweiten Saison-Sieg. Nach dem Abstieg aus der Regionalliga in die Oberliga aber wird er die Kicker seines alten Vereins dann nicht mehr in seiner Zeitung finden können.

Heute genießt Reske den guten Wein und Spargel in der Gegend um Nußloch, fährt gerne in die Nähe von Bordeaux in Urlaub. "Wir haben da eine Städtepartnerschaft. In der Volksschule habe ich ja zum Glück Französisch gehabt." Und wenn im Sommer die Wettbewerbe der Olympischen Spiele übertragen werden, wird er natürlich auch vor dem Fernseher sitzen. Nachdem ihn der Sport um die ganze Welt führte, fährt er nicht mehr ganz so weit weg. Ehrenmitglied bei Saar 05 ist er immer noch. Und einen Rekord hat Reske auch noch inne: Er ist der einzige saarländische Leichtathlet, der als Mitglied eines saarländischen Vereins eine Olympiamedaille gewann.

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