Der große Triumph der kleinen Schwester

Saarbrücken · In einer Serie trifft sich die SZ-Sportredaktion mit deutschen Medaillengewinnern bei Olympischen Spielen, die zugleich eine besondere Beziehung zum Saarland haben. Teil 11 der Serie: Angela Könneker (61).

 Angela Könneker vor „ihrer“ Bahn drei. 2011 besuchte die Bronzemedaillen-Gewinnerin noch mal den Ort des Triumphes. Am 30. August 1972 holte sie hier Bronze mit der 4x100-Meter-Freistil-Staffel. Foto: Könneker

Angela Könneker vor „ihrer“ Bahn drei. 2011 besuchte die Bronzemedaillen-Gewinnerin noch mal den Ort des Triumphes. Am 30. August 1972 holte sie hier Bronze mit der 4x100-Meter-Freistil-Staffel. Foto: Könneker

Foto: Könneker

Vor ein paar Jahren war sie noch mal da. München, Olympia-Schwimmhalle. Der Ort des großen Triumphes. "Wir haben ein Bild gemacht: Ich und meine Bahn drei", sagt Angela Könneker und lacht. Oft kam sie seit dem Ende ihrer Karriere nicht mehr hierher. Einmal noch zur 25-Jahr-Feier mit den anderen aus dem Team und dann halt 2011 mit ihrem Mann. Dabei hat die Bahn drei eine große Bedeutung: 30. August 1972, Olympische Spiele in München. Das Finale über 4x100 Meter Freistil. "Mit uns hat ja überhaupt niemand gerechnet. Bei den Männern hatten alle auf eine Medaille spekuliert, aber bei uns? Nein", sagt Angela Könneker, die damals noch Angela Steinbach hieß.

17 war sie bei den Spielen von München. Und Schluss-Schwimmerin der deutschen Staffel. "Eigentlich war klar, dass die USA, die DDR und Australien die Medaillen unter sich ausmachen", erinnert sich Könneker. "Die galten als unantastbar." Morgens im Vorlauf tauchte dann aber plötzlich die Staffel der Gastgeber auf Platz drei auf. "Das konnten wir gar nicht fassen. Wir waren gut geschwommen. Aber Drittschnellste? Wir dachten: So schnell sind wir ja eigentlich gar nicht. Das können wir nicht halten."

Doch es kommt anders. Jutta Weber, Heidemarie Reineck und Gudrun Beckmann, die ersten drei, schwimmen im Finale am Abend im Kielwasser der USA- und der DDR-Staffel tatsächlich erneut auf Platz drei. Angela Steinbach wartet auf dem Startblock. Der ganze Druck lastet auf ihr. "Ich musste gegen Shane Gould ran", erzählt sie. Eigentlich eine unlösbare Aufgabe. Die Australierin war die erfolgreichste Schwimmerin der Spiele von München, das weibliche Pendant zu Mark Spitz . Drei Mal Gold - drei Mal Weltrekord. Gold-Gould. Und gegen die sollte Steinbach Platz drei verteidigen?

"Die hätten mich gelyncht"

Angela Könneker sitzt in ihrer Wohnung in Dortmund. Ein schöner Altbau mit hohen Stuck-Decken. Mitten in der Stadt und doch ruhig. Das Westfalen-Stadion ist nur einen Steinwurf entfernt. Klar: Wer hier wohnt, ist BVB-Fan. Ihr Mann Jürgen geht später noch ins Stadion, Sohn Axel hat Karten für die Südtribüne. Könneker nippt am Kaffee. Sie muss lachen, als sie zurückdenkt: "Mich wollten sie ja am Anfang eigentlich gar nicht. Ich war nur die kleine Schwester", sagt sie. "Aber mein Bruder ging auf dieses Internat - und das fand ich toll. Da wollte ich auch hin."

Der Bruder ist Klaus Steinbach. Er gehörte - wie auch ihr Ehemann Jürgen Könneker - zu den ersten Sportlern, die von der neu gegründeten DSV-Schwimmschule Max Ritter in Saarbrücken aufgenommen wurden. 1969 wurde die Schule im Hinblick auf die Olympischen Spiele als Leistungszentrum für Talente aus ganz Deutschland eingerichtet. Angela Könneker kam ein Jahr später dazu. "Ich war ganz gut, hatte aber noch nicht die richtig großen Resultate. Mein Plus war letztendlich, dass ich auch ganz gut in der Schule war. Da haben sie gesagt: Okay, wir versuchen es."

Die Max-Ritter-Schule ist eine andere Welt. Pro Tag eine Stunde Training im Schwimmbad, dazu 45 Minuten in der Folterkammer des Kraftraums. "Zu Hause in Kleve sind wir vorher bloß geschwommen, drei Mal pro Woche. Jetzt war jeden Tag Training - und zum ersten Mal hatte ich auch Athletik-Training. Gymnastik, Laufen, Zirkeltraining, Krafttraining - ich konnte in den ersten Wochen keine Treppen mehr gehen, so einen Muskelkater hatte ich", erinnert sich Könneker. "Im Vergleich zu heute war das aber eigentlich überhaupt nichts. Heute sind vier bis sechs Stunden zwingend notwendig." Für Könneker war es dennoch ein Quantensprung. "In Kleve hatten wir im Sommer im Feuerlösch-Teich der Margarinen-Union trainiert." Die Firma produziert Rama.

Nicht einmal zwei Jahre später geht es in München um die Wurst - und die Medaille. "Als ich ins Wasser gesprungen bin, hatte ich nur einen Gedanken: Gould darf dich nicht einholen. Die anderen lynchen dich, wenn du als Vierte anschlägst." Könneker schwimmt auf Bahn drei, Gould direkt daneben. "Als ich bei der Wende gemerkt habe, dass sie nicht rangekommen war, hat mich das beflügelt. Da dachte ich nur noch: So, jetzt Kopf ins Wasser und durch." Das tut Könneker auch. Und wie: In 59,07 Sekunden fliegt sie durchs Wasser, schwimmt persönliche Bestzeit - und schlägt tatsächlich als Dritte an. Die Zeit für das deutsche Quartett bleibt bei 3:57,93 stehen. Das ist unter dem alten Weltrekord!

Medaillen-Gewinnerin im eigenen Land. Den Weltrekord unterboten. Bei Olympia. Bis Könneker tatsächlich begreift, was da gerade passiert ist, dauert es ein paar Tage. "Im Stadion ging alles rasend schnell: anschlagen, abtrocknen, Siegerehrung, Ehrenrunde. Da blieb kaum Zeit zum Überlegen." An was sie sich aber noch genau erinnert: "Als bei der Siegerehrung die Fahne hochging, dachte ich: Die geht jetzt für dich hoch."

So richtig genießen kann sie ihren Erfolg dennoch zunächst nicht. Denn da ist die Sorge um den großen Bruder, der am nächsten Tag ran muss. "Wir waren ja die Überraschung. Aber von den Männern hatte man etwas erwartet", erinnert sie sich. "Und ich war bei Rennen von Klaus sowieso immer aufgeregter als bei meinen eigenen. Ich dachte nur: Hoffentlich geht der jetzt nicht leer aus."

Doch die Angst ist unbegründet. Einen Tag nach der kleinen Schwester legt der große Bruder nach. Klaus Steinbach holt mit der Staffel sogar Silber. Könneker lacht: "Ein Geschwisterpaar mit Medaillen. In Kleve haben sie Kopf gestanden, bei unseren Eltern war der Bär los." Dass die kleine Schwester dem bekannten Bruder dabei einen Tag zuvorkam, ist heute noch Grund für so manche Stichelei: "Klaus grinst dann immer und sagt: Ja, aber dafür habe ich Silber."

Klaus Steinbach wohnt heute in Lebach, seine Schwester in Dortmund. Die Saarbrücker Straße ist "umme Ecke", wie sie hier sagen. Doch ins Saarland kommt Könneker nur noch selten. Die Staffel von damals ist mittlerweile über die halbe Welt verteilt, ab und zu trifft man sich noch. Der Kontakt zum Bruder ist jedoch nach wie vor eng. Kein Wunder, wenn man so viel zusammen erlebt hat. "Ohne Klaus hätte ich das Ganze damals in Saarbrücken nicht durchgestanden", gibt Könneker zu. "Das war gerade am Anfang die absolute Hölle. Das Training war hart, dazu kam die Umstellung mit der Schule. Ich hatte früher Englisch, im Saarland war Französisch Hauptfach." Und dann waren da noch Lehrer, die - sagen wir - nicht ganz so viel Verständnis für das neue Sport-Internat hatten. "Einer sagte mal zu mir: Entweder Sie wollen zu Olympia, oder Sie machen Abitur. Beides zusammen geht nicht. Und das werde ich auch zu verhindern wissen." Mittlerweile kann Könneker drüber lachen. Auch Lehrer haben halt nicht immer recht.

Neben dem Bruder gab es eine weitere prägende Person: Bundestrainer Horst Planert. "Er war nicht nur unser Trainer, sondern quasi auch der Ersatzvater", erzählt Könneker. "Er war immer für uns da. Und was er in Saarbrücken in so kurzer Zeit fertig gebracht hat, ist eigentlich unfassbar." Von null auf Olympia in kürzester Zeit, Planert bringt fünf Schwimmer nach München.

Auch Könneker. Erst 1970 nach Saarbrücken gekommen wird 1972 ihr großes Jahr. Zu Beginn des Olympia-Jahres schaffte sie "von jetzt auf gleich" den Sprung in die National-Auswahl: Bei einem Länderkampf in Hannover schwimmt die 4x100-Meter-Staffel erstmals in der Besetzung wie später in München. "Es war ein Versuch", sagt Könneker. Und ihre Chance. Sie nutzt sie. Bei der deutschen Meisterschaft, gleichzeitig auch Olympia-Qualifikation, wächst sie wenig später über sich hinaus. Mit einem neuen Badeanzug. Aus Strömungsgründen ist er an Beinen und Armen auf die Haut aufgeklebt. Planert hat die Anzüge in der Schweiz entdeckt. Könneker erinnert sich noch heute mit einem Schaudern: "Das Schlimmste war das Ausziehen nach dem Wettbewerb - echt eklig." Doch es lohnt sich. Am Ende wird sie Zweite, löst das Ticket nach München.

Die Olympia-Medaille liegt heute im Wohnzimmer-Schrank. In einer Schatulle mit dem Protokoll der geschwommenen Zeiten - und der Goldmedaille, die ihr Mann Jürgen 1977 bei der Europameisterschaft gewonnen hat. Auch Mark Spitz , der Superstar der Spiele von München, saß schon hier in diesem Wohnzimmer. "Klaus hat ihn mal mitgebracht. Er trank Tee und hat Kekse gegessen", sagt Könneker und lacht. "Als wir später mal die Couch entsorgt haben, sagte unser Sohn: Die können wir doch eigentlich nicht wegwerfen. Da hat Mark Spitz draufgesessen!"

Ob die Medaille ihr Leben verändert hat? "Nein", sagt Könneker. Die Medaille nicht, wohl aber der Leistungssport und die Max-Ritter-Schule. "Mit 15 von zu Hause wegzugehen, auf sich allein gestellt zu sein, das hat einen geprägt. Aufstehen, Schule, Mittagessen, Hausaufgaben, pünktlich beim Training sein, Probleme selbstständig lösen - da hat man Disziplin gelernt. Und für sich selbst verantwortlich zu sein."

Sohn verpasst Olympia knapp

Nicht zuletzt lernte sie durch den Sport auch ihren Mann kennen. 1970 hatten sich die beiden in Saarbrücken zum ersten Mal gesehen. Doch Liebe auf den ersten Blick war es nun nicht gerade. "Nein", lacht Könneker. "Das kam erst viele, viele Jahre später. Wir haben mehrere Anläufe gebraucht." Dafür hält es aber. "Wir sind jetzt schon 34 Jahre verheiratet", sagt sie stolz. Es ist eine echte Schwimmer-Familie. Schon Angelas Eltern waren aktiv. Und auch die Söhne Axel und Robert sind gute Schwimmer . Um ein Haar hätte Robert sogar die Familiengeschichte bei Olympia fortgeschrieben. Der Militärweltmeister von 2007 verpasste die Qualifikation für Peking 2008 nur knapp. Heute geht er als Pilot lieber in die Luft - doch bei den deutschen Meisterschaften 2014 war er noch mal am Start und holte den Titel mit der Mannschaft.

Seine Mutter wiederholte 1973 mit der Staffel bei der ersten Schwimm-Europameisterschaft noch mal den Bronze-Platz von München und wurde 1974 deutsche Meisterin über 100 Meter. Zwei Jahre später aber folgte der große Rückschlag: Sie verpasste die fest eingeplante Qualifikation für Olympia 1976 in Montreal. "Das war meine größte sportliche Niederlage", gibt sie zu. "Für mich war klar: Ich fahre dorthin, denn ich war vor der Quali immer unter den besten Vier. Ich hatte mich schon darauf gefreut, denn ich hätte das mit 21 auch alles viel bewusster wahrnehmen können als vier Jahre vorher." Doch dann läuft alles schief. "Die Nerven sind mit mir durchgegangen. Ich war super nervös, weil ich mich nicht wohl gefühlt hatte. Ich hatte ein Semester Pause gemacht, um besser trainieren zu können. Aber ich hatte zu viel gemacht und war nicht ausgeruht genug. Damit hatte ich lange zu kämpfen", gibt sie zu. "Später bin ich mit weniger Training viel schneller geschwommen." Doch auch das gehört zu dem, was man als Sportler lernt: Niederlagen verkraften.

Und heute? Auch lange nach dem Karriere-Ende ist Könneker topfit. Vor dem Fernseher liegt eine Iso-Matte bereit. Allerdings: "Bahnen ziehen, das brauche ich nicht mehr. Wenn ich schwimme, dann nur noch im Urlaub im Meer", sagt sie. Ins Schwimmbad geht sie nicht mehr. Es sei denn, es geht um ein Wiedersehen mit ihrer Bahn drei. In München.

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