„Die Formel 1 ist verweichlicht“

Die Formel 1 startet nach dreiwöchiger Sommerpause an diesem Sonntag im belgischen Spa. Ex-Formel-1-Pilot Gerhard Berger, zwischen 1984 und 1997 im Pulverdampf von 210 Grand Prix gestählt, ist auch heute noch ein charismatischer Charakterkopf. Der ehemalige Vollblut-Rennfahrer redet Klartext. Wie der 54-jährige Tiroler heute über die „neue Formel 1“ denkt, offenbarte Berger im Interview mit SZ-Mitarbeiter Walter Koster.

Herr Berger, was ist für Sie der größte Unterschied zu Ihrer Formel-1-Zeit und heute?

Gerhard Berger : Die Zeit

Können Sie das näher erklären?

Berger: Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Wenn ich heute in den Spiegel schaue, schau ich auch anders aus als vor 20 Jahren, meine Frau auch. Wir haben eine andere Zeit, andere Technologien, einen anderen Anspruch von den Fans, einen anderen Sicherheitsstandard, andere Budgets, andere Medien. Was ist besser, was ist schlechter, das spielt alles keine Rolle. Wir müssen nach vorne schauen, nicht nach hinten.

Würden Sie lieber heute in der Formel 1 fahren als früher?

Berger: Ich war froh, dass ich zu meiner Zeit fahren konnte.

Wie sehen Sie die aktuelle Formel-1-Situation, die künstlich spannend gemacht wird durch Hilfsmittel wie das DRS, bei dem der Heckflügel auf Knopfdruck aufklappt und der Vordermann überholt werden kann, oder die doppelten Punkte beim Saisonfinale in Abu Dhabi?

Berger: Alles Blödsinn, unnötiger Mist. Alles, was künstlich und nicht echt ist, nimmt der Fan nicht an. Weder das DRS noch die doppelten Punkte. Die Fans wollen Rennen mit echten Überholmanövern und Rad-an-Rad-Kämpfen erleben, ohne dass es gleich eine Strafe gibt. Die Formel 1 ist verweichlicht, weichgespült. Ich wünsche mir weniger komplizierte Regeln, dafür mehr Freiraum für die Rennfahrer.

Die Formel 1 leidet unter einem Zuschauerschwund. 52 000 Besucher in Hockenheim waren Minusrekord. Ist die Formel 1 nicht mehr attraktiv genug oder falsch vermarktet?

Berger: Sie wird zu schlecht und verkehrt vermarktet. In Hockenheim hat man viele leere Tribünen gesehen. Ziemlich viel war lieblos. Wenn man so lieblos einen Grand Prix angeht, dann ist das Resultat klar. Wer dafür verantwortlich war, hat keinen tollen Job gemacht. Im Gegensatz zum Österreich-Grand-Prix. Red Bull hat eine Veranstaltung aufgezogen mit tollen Nebenprogrammen, da war volles Haus.

Bei welchem Sport kann sich die Formel 1 noch was abgucken?

Berger: Beim Motorradsport. Dort wird ein hervorragender Job gemacht.

Zum Beispiel?

Berger: Da bricht sich der Lorenzo die Schulter, fliegt über Nacht ins Krankenhaus nach Barcelona, lässt sich operieren und fährt am nächsten Tag schon wieder Rennen. Dagegen ist die Formel 1 verweichlicht. Bei uns dagegen kassierst Du dauernd Durchfahrtsstrafen.

Welche Rolle spielt der Formel-1-Fahrer heute noch? Gibt es noch Typen, wie Sie einer waren?

Berger: Es gibt noch einige Typen: Lewis Hamilton , Kimi Räikkönen , Nico Rosberg . Es sind nur andere Typen, weil die Zeit und das Umfeld anders sind.

Wie sehen Sie die Entwicklung Ihres Ex-"Schülers" Sebastian Vettel ? Sie waren sein "Lehrer" und Boss bei Toro Rosso.

Berger: Seine Entwicklung ist irre. Vettel ist immerhin vier Mal Weltmeister geworden. Momentan hat er etwas schwierige Zeiten, aber das macht nix. Das braucht er sogar. Auch schwierige Zeiten gehören zum Leben. Und er wird die nächste Periode einleiten, in der er den nächsten WM-Titel dranhängt.

Welcher Fahrer hat Sie in dieser Saison überrascht?

Berger: Das sind gleich drei. Erstens: Nico Rosberg . Weil er jetzt das "Ich" zeigt. Egal ob Michael Schumacher sein Teamkollege war oder Lewis Hamilton es jetzt ist. Den Rosberg hat man von vornherein immer in die zweite Rolle gedrückt. Er hat aber immer bewiesen, dass er die erste Rolle spielt. Das ist schon beeindruckend. Der zweite Fahrer, der mich beeindruckt, ist der junge Russe Daniil Kvyat. Er ist aus der Formel 3 in die Formel 1 zu Toro Rosso aufgestiegen und macht dort einen hervorragenden Job. Der Dritte ist Nico Hülkenberg bei Force India , weil der immer so konstant dabei ist. Der geht nie unter.

Zum Thema:

Zur Person

Gerhard Berger (54) startete zwischen 1984 und 2007 für ATS, Arrows, Benetton, Ferrari und McLaren bei insgesamt 210 Formel-1-Rennen. Zehn davon gewann er. Trotz der Erfolge heftete ihm immer der Ruf des netten Hallodris an.Nach seiner Rennfahrer-Karriere war Berger von 1998 bis 2003 Motorsportdirektor bei BMW und von 2006 bis 2008 Mitbesitzer des Toro-Rosso-Teams, für das auch Sebastian Vettel fuhr. Darüber hinaus gehört ihm eine Spedition, die sein Vater gegründet hat. Als Beauftragter des Automobil-Weltverbandes Fia kümmert sich Berger zudem um die Nachwuchsserien im Motorsport. wip

Zum Thema:

Am Rande

Neuer Altersrekord: Das Formel-1-Team Toro Rosso hat den Niederländer Max Verstappen (16) als Stammpiloten für die nächste Saison verpflichtet und sorgt damit für einen Altersrekord in der Königsklasse. Der Sohn des früheren Grand-Prix-Piloten Jos Verstappen wird bei seinem Debüt mit 17 Jahren der jüngste Formel-1-Fahrer der Geschichte sein. Bisheriger Rekordhalter ist Jaime Alguersuari (Spanien), der 2009 mit 19 Jahren ebenfalls für Toro Rosso fuhr.Bereits beim Grand Prix in Spa-Francorchamps am Sonntag wird zudem der Deutsche André Lotterer an den Start gehen. Der 32 Jahre alte dreimalige Le-Mans-Sieger ersetzt den Japaner Kamui Kobayashi bei Caterham. sid

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort