Von der Schulhof-Rauferei zu olympischem Silber

Köllerbach · In einer Serie trifft sich die SZ-Sportredaktion mit deutschen Medaillengewinnern bei Olympischen Spielen, die zugleich eine besondere Beziehung zum Saarland haben. Teil zwölf der Serie: Hans-Jürgen Veil (69).

 Mehr als 20 Jahre lang verstaubte seine Silbermedaille in einem Karton auf dem Speicher. Heute liegt sie in einer Glasvitrine.

Mehr als 20 Jahre lang verstaubte seine Silbermedaille in einem Karton auf dem Speicher. Heute liegt sie in einer Glasvitrine.

Foto: Aubert

Eigentlich wollte Hans-Jürgen Veil überhaupt nicht ringen. Obwohl sein Vater ein sehr guter Ringer war und ihn immer dazu bewegen wollte, war mehr nötig, um den damals Zwölfjährigen auf die Ringermatte zu locken: Ein Streit in der Schule mit seinem Schulkameraden Edwin Lauer, der in einer handfesten Rauferei endete. "Ich habe ihn damals mit ringerischen Fähigkeiten aufs Kreuz gelegt", erinnert sich Veil und muss lachen. Denn ausgerechnet jener "Ede hat mich später überredet, ins Training zu kommen". Diese Schulhof-Rauferei ist der Anfang einer Geschichte , die mit der Silbermedaille bei den Olympischen Spielen 1972 ihren Höhepunkt findet.

Die meisten Erinnerungen des heute 69-Jährigen an seine aktive Zeit als Ringer kommen nur peu à peu zurück - mit dem Durchblättern seines DIN-A4-Ordners und dem Betrachten der Bilder. "Ich denke da nicht oft daran", sagt Veil sichtlich ergriffen. Nur dieser Finalkampf am 10. September 1972 um die Goldmedaille bei den Sommerspielen in München ist ihm heute, nach fast 44 Jahren, so präsent, als wäre er gestern erst gewesen. Es ist eine der letzten Entscheidungen der Spiele im eigenen Land. Veil tritt im Bantamgewicht bis 57 Kilogramm gegen den Sowjetrussen Rustem Kasakov an.

Alles war möglich, weil Veil, wie er sagt, in der Form seines Lebens war - und dennoch geht er dort auf die Schulter. "Das ging alles ganz schnell", erinnert er sich: "ich habe erst gedacht, dass Pause wäre, aber dann hieß es weitermachen." Wenige Sekundenbruchteile später lag er auf der Schulter. "Ich war noch irritiert, und dann war es schon vorbei."

Es war gar nicht unbedingt die Niederlage, die sich bei ihm eingebrannt hat, sondern die Atmosphäre in der Judo- und Ringerhalle. "Die Zuschauer waren empört, es ging noch lauter zu als sonst, das war ein Mordsspektakel", erinnert er sich. Weil sich alle genauso sicher waren wie Veil selbst: dass er den Russen kurz zuvor geschultert hat. Zum ersten Mal in seiner Karriere setzt er die Kopfschleuder an, wuchtet den Russen kopfüber auf die Schulter. Nur der Mattenrichter sieht es nicht. "Aber so ist eben der Sport, es war ja nicht mehr zu ändern", sagt Veil, der Kasakov nach dem Kampf ohne zu zögern freundschaftlich auf die Schulter klopft. Weil er "die Situation beruhigen" wollte.

Über die erste Enttäuschung hat es nicht hinweggeholfen. "Klar, Gold wäre in diesem Moment auch in Ordnung gewesen", sagt er und lächelt - ehrlich, aufrichtig und ohne jede Spur der Verbitterung. Denn heute kann er der Niederlage viel Positives abgewinnen: "Im Nachhinein bin ich froh, dass ich die Goldmedaille nicht gewonnen habe. Man wird ja immer an seinen Erfolgen gemessen. Das wäre eine enorme Belastung gewesen", meint Veil. Denn 1972 war "Hennes", wie er von seinen Freunden gerufen wurde, schon Vater. Sein erster Sohn (Hans-Jürgen) war zwei Jahre alt, sein zweiter Sohn (Wolfgang), der 1973 zur Welt kam, unterwegs. Schon damals sei ihm klar gewesen, dass er den Aufwand mit fast täglichem Training so nicht mehr betreiben konnte - und auch gar nicht wollte. "Bis dahin habe ich auch nie groß darüber nachgedacht. Es gab einfach meinen Beruf, das Ringen und der Rest war Familie", sagt er. Drei Jahre später kam noch Tochter Melanie zur Welt.

Hinzu kam, dass Veil auch beruflich immer Vollzeit gearbeitet hat. Erst als Schlosser und später für eine Hausverwaltung der Stadt Ludwigshafen, für die er 500 Mieter betreute, sodass der Sport nie allein im Mittelpunkt stehen konnte. "Jedenfalls nicht in dem Maße, wie es nötig gewesen wäre. Das war schon schade. Aber andere Dinge rücken in den Vordergrund, wenn du zuhause Frau und Kinder hast und jeden Tag arbeiten musst", sagt er.

Den Ruhm, den die olympische Medaille mit sich brachte, hat er aber genossen. Plötzlich erkannte ihn jeder - auf der Straße, im Bus oder bei der Arbeit. "Ich hatte das Gefühl, dass ich überhaupt nichts mehr bezahlen muss", erinnert er sich, "Prozente hier, Prozente dort". Er war nicht nur unter seinen Mietern bekannt wie ein bunter Hund: "Das war verrückt, aber ein schönes Gefühl." Im gleichen Atemzug sagt er aber, dass diese Zeit "auch schnell wieder vorbei" war. Dass ihn nach und nach immer mehr Mieter gefragt hätten, wer er denn sei, als er unangemeldet vor ihrer Tür stand. "Auch daran musste ich mich erst gewöhnen." Denn auch für ihn war der große, internationale Erfolg ja neu.

Auf nationaler Ebene gewann der nur 1,60 Meter große Veil drei Mal die deutsche Meisterschaft, fünf Mal wurde er Zweiter, sechs Mal Dritter. Vierte Plätze bei drei Europameisterschaften und einer Weltmeisterschaft. Aber internationale Titel oder Medaillen? Fehlanzeige. Bis 1972. Doch was Veil, der aufgrund seiner dunklen Haarpracht, den gewaltigen Koteletten und seinem Schnauzbart für einen türkischen Ringer gehalten wurde, auszeichnete, war sein unbedingter Wille, sich weiterzuentwickeln.

Schon als er mit 17 Jahren den ersten Lehrgang mit der Nationalmannschaft mitmachen durfte, stieß er nach dem Morgenlauf an seine Grenzen. "Da war ich schon vor dem eigentlichen Training fix und fertig." Aber Veil ging immer wieder über seine Grenzen, trainierte weiter und härter als manch anderer. Wenn er auf Montage war, suchte er sich immer einen Verein, um seinen Trainingsplan umzusetzen. Als er in Friesenheim keinen Trainingspartner mehr hatte, fuhr er nach Schifferstadt, schon Jahre bevor es dort den Stützpunkt gab. "Man muss das schon selbst wollen", sagt er, "und man braucht jemanden, der einen immer wieder über die Schmerzgrenze treibt. Ich kotze ja nicht freiwillig."

Sein sportlicher Durchbruch gelingt ihm mit dem Wechsel zum KSV Köllerbach 1970. Dort wird er ein Jahr später zum ersten Mal deutscher Meister, im Jahr darauf gewinnt er mit dem KSV Köllerbach die deutsche Meisterschaft mit der Mannschaft. Doch viel wichtiger als seine ersten nationalen Titel war, dass sich seine Leistung gefestigt hat. "Da habe ich gemerkt, dass ich mit internationalen Spitzenringern mithalten kann", sagt er.

Doch der Wechsel ins Saarland fiel dem frisch gebackenen Vater nicht leicht. In Ludwigshafen war er mit seiner Familie und fünf Geschwistern aufgewachsen, hier hatte er gearbeitet, hatte seine Freunde, und er war dabei, seine eigene Familie zu gründen. Wegzugehen, wäre für Veil nie in Frage gekommen, wenn er nicht so ehrgeizig gewesen wäre. "Ich wollte immer deutscher Meister werden", sagt er. Letztendlich sei er nur gewechselt, weil mit Gerhard Hartmann, Gerd Volz und Fred Theobald drei seiner Friesenheimer Kollegen in Köllerbach gerungen haben: "Sonst hätte ich das nicht gemacht." Zwar war er nur zu den Kämpfen und Feiern im Saarland, aber er erinnert sich gerne an die Zeit beim KSV zurück - auch wenn der Kontakt abgebrochen ist. "In Köllerbach", sagt er, "haben sie mich immer gut behandelt."

Als es darum ging, wie er für seine Dienste entlohnt werden sollte, sei nicht gefeilscht worden. Heinz Kläs, der langjährige Köllerbacher Präsident, hätte damals nur gesagt: Hennes, sag, was du willst. Da Veil kurz zuvor mit seiner damaligen Frau Gisela zusammengezogen war, "brauchten wir einen ganzen Hausstand", erzählt er und muss lächeln: "Kläs ist dann mit mir in ein Möbelhaus gefahren. Ich durfte mir aussuchen, was ich wollte - ohne auf den Preis zu schauen." Die komplette Einrichtung: Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche. "Das war damals viel Geld."

Viel wichtiger aber war ihm immer der sportliche Erfolg. In seiner Zeit beim KSV Köllerbach stellten sich dann nicht nur die Erfolge ein, seine Leistung etablierte sich auch auf einem hohen Niveau. Und so gewann er das Vertrauen des damaligen saarländischen Bundestrainers Heinz Ostermann. Das ging so weit, dass Veil trotz eines Bänderrisses im Knie, drei Monate vor den Spielen, weiterhin für München eingeplant war. "Das war schon schwer", sagt Veil. Eben weil er sein Knie nicht mehr beugen konnte. Unter Narkose und Schmerzmitteln sei es in Homburg gebeugt und für zwei Tage festgebunden worden. Die Spiele und seine Teilnahme standen auf der Kippe, kurz nachdem sie für Veil mit seinem ersten nationalen Titel erst greifbar wurden. Aber sein Knie spielte mit, er gewann das vorolympische Turnier in München und bestätigte das Vertrauen von Ostermann.

Vorher war "Olympia nie wirklich ein Traum", sagt er. Deutscher Meister zu werden, vielleicht, oder gute Platzierungen bei einer EM oder WM, "ja, davon habe ich geträumt, aber Olympia? Nein." Dieser Wunsch sei erst viel später gekommen. "Ich wusste ja, wie schwer es ist, überhaupt zu den Spielen zu kommen", sagt Veil. Auch 1976 wurde er für die Olympischen Spiele nominiert. In Montreal verliert er aber seine ersten beiden Kämpfe und scheidet sang- und klanglos aus. Ohne enttäuscht zu sein. "Wenn ich zum Ringen fort bin, egal wohin, ob USA oder Kanada, hatte ich schon Heimweh, als ich im Flieger saß", sagt er.

Zurück in Deutschland, lässt Hans-Jürgen Veil seine Karriere beim Zweitligisten KSV Wiesenthal ausklingen. Ohne Abschied aus der Bundesliga und ohne anschließende Trainertätigkeit. "Das wäre auch nur mit vollem Einsatz gegangen." Auch seine Silbermedaille, das silberne Lorbeerblatt, das er nach den Spielen in München erhielt, seine Medaillen und Pokale, alles verschwand in einer Kiste auf dem Speicher. Nach der Trennung von seiner Frau Gisela "hat mich das nicht mehr interessiert".

 Weil er es schon immer wollte: Mit 61 Jahren lernt Hans-Jürgen Veil Einrad fahren. Foto: Aubert

Weil er es schon immer wollte: Mit 61 Jahren lernt Hans-Jürgen Veil Einrad fahren. Foto: Aubert

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 Im Alter von 17 Jahren durfte Veil erstmals zur Ringer-Nationalmannschaft. Foto: veil

Im Alter von 17 Jahren durfte Veil erstmals zur Ringer-Nationalmannschaft. Foto: veil

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Erst mit seiner zweiten Frau Petra, die seit 25 Jahren an seiner Seite steht, hat er die Medaillen und die Bilder hervorgeholt. Und sich nicht nur an seine aktive Zeit als Ringer erinnert, sondern auch an die Zeit davor. Ringen, das geht heute ohnehin nicht mehr. ("Wenn ich auf die Matte geworfen werde, habe ich acht Tage Muskelkater"). Aber nichts tun? Noch heute arbeitet er im Betrieb seiner Frau. Sportlich hält er sich mit Liegestützen fit, spielt regelmäßig Fußball und Basketball - und dann kommen noch ein paar Hobbys hinzu - wie Fußtheater, bei dem er auf dem Boden sitzend eine Figur über seinen Fuß stülpt und mit den Händen dazu spielt. Oder eben Einrad fahren, das er noch mit 61 Jahren lernte. All das, was er eigentlich schon immer machen wollte - schon bevor ihn sein Schulfreund Ede Lauer zum Ringen überredete.

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