Anklage: Erdogan hält uns absichtlich dumm

Oberthal · Türkischer Flüchtling sieht Demokratiedefizite bei Landsleuten als Auswuchs staatlich verordneter Bildungslücken.

 Familie Zincir vor ihrem Eigenheim in Oberthal (von links): Ela (2), Feray (34), Mehmet (42) und Eda (9). Papa Mehmet geht es hier gut. Er musste aus seiner Heimat fliehen, wie er berichtet. Foto: hgn

Familie Zincir vor ihrem Eigenheim in Oberthal (von links): Ela (2), Feray (34), Mehmet (42) und Eda (9). Papa Mehmet geht es hier gut. Er musste aus seiner Heimat fliehen, wie er berichtet. Foto: hgn

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Ihm geht es gut. Er hat einen Job. Und er lebt mit seiner Familie in einem kleinen, gemütlichen Haus in Oberthal. Nichts Luxuriöses, aber ein ruhiges Fleckchen mit allem, was er und seine Lieben brauchen.

Das war nicht immer so. Bevor Mehmet Zincir 2007 hierherkam, hat er eine Odyssee über Frankreich hinter sich gebracht. Der Türke flüchtete aus seiner Heimat. Vor Unterdrückung als Demokrat, sagt der 42-jährige Familienvater. Er war Lehrer in einer kleinen Stadt nahe dem Mittelmeer, etwa 1000 Kilometer Luftlinie südöstlich von der Hauptstadt Ankara. Er wollte frei denken, sich nicht von einer einzigen Meinung beeinflussen lassen. "Die Welt ist bunt", sagt er, "nicht nur schwarz/weiß". Doch diese Denke sei ihm zum Verhängnis geworden, berichtet Mehmet, bemüht, die treffenden Worte trotz seines gebrochenen Deutsches zu finden.

Die jetzige Regierung unter Staatschef Recep Tayyip Erdogan habe etwas zerstört, was die Kultur, die Lebensweise der Türkei über Jahrhunderte ausgemacht habe: Toleranz und Respekt gegenüber Andersdenkenden. "Erdogan markiert den starken Mann", beschreibt Mehmet ihn mit ausdrucksstarker Pose als Despoten. Dieser mache dem Volk weis, dass nur er wisse, was richtig und falsch ist. "Er sagt: Was brauchst Du ein Buch? Ich sage Dir, wie es richtig ist", interpretiert der Flüchtling, schaut dabei bitter. Das gelte in Schulen und an Universitäten seines Landes, wo der Wille gebrochen werde. Dies setze sich in den Medien fort. Und das nun schon seit Jahrzehnten. "Es gibt eine ganze Generation, die keinen anderen Herrscher als Erdogan kennt. Und wenn solch ein starker Mann so lange regiert, dann muss er doch gut für uns sein", versucht Mehmet die Gründe für den Zulauf zu erläutern. Keine Bildung, keine andere Meinung gelten lassen: "Erdogan hält uns absichtlich für dumm", um seine Macht immer weiter auszubauen, ist Mehmet überzeugt.

Wer sich öffentlich, in der Familie, unter Freunden gegen den türkischen Staatschef stelle, werde denunziert, geächtet, sagt Mehmet. Das setze sich in Deutschland fort. Seine Frau Feray (34), in Deutschland geboren, pflichtet ihm bei: "Das haben wir selbst hier erlebt. Eine Familie besucht nur noch unsere beiden Mädchen Ela und Eda." Mit den Eltern, die sich offensiv gegen Erdogan positionieren, wollen sie nichts mehr zu tun haben.

Da greift der Familienvater wieder die Begriffe Toleranz und Respekt auf, die sich wie ein roter Faden durch seine bildreichen Schilderungen ziehen. Als ob er schier daran zu verzweifeln drohe, dass Menschen, die nicht einer Meinung sind, sich gegenseitig bekämpfen. Für ihn, der sich selbst als inbrünstigen Demokraten tituliert, schwer zu verkraften.

Ebenso wie die dramatische Situation seiner beiden in der Türkei verbliebenen Brüder. Sie sind wie er Lehrer, aber wie Tausende anderer nach dem gescheiterten Putsch im Juni vergangenen Jahres von der Erdogan-Administration suspendiert worden. Mit ihnen ihre Frauen, die ebenfalls an Schulen unterrichteten, berichtet Mehmet. Sie hätten nichts mit dem militärischen Widerstand zu tun gehabt. Aber sie denken frei, hinterfragen. Das sei ihr Fehler gewesen, denn Erdogan fürchte Bildung. Doch für Demokratie müssten Menschen wach bleiben, fordert Mehmet. Sonst nimmt ihm das Volk alles ab. "Wenn Erdogan sagt, Du darfst während des Fastenmonats Ramadan keinen Kaugummi kauen, dann glauben sie ihm das", spottet er. Aber so ein Blödsinn stehe nicht im Koran. Erdogan vermittle mit Macht, dass seine Idee, seine Religion das beste ist. "Die Menschen denken nicht mehr. " Das führe zum Faschismus. Egal wo. Jetzt eben in der Türkei. Mehmet ist überzeugt: "Faschismus bleibt Faschismus, egal welcher Nationalität." Da sei jeder ein Mensch, nicht Türke nicht Deutscher.

Werden seine Landsleute, die zurzeit in Deutschland bis zum 16. April am Verfassungsreferendum für eine gestärkte Macht des Staatspräsidenten und damit für Erdogan stimmen? Mehmet sieht ein Umdenken bei jenen, die in die deutsche Gesellschaft integriert sind. Aber eine Prognose zum Ausgang wagt er nicht. Indes ist seine Frau Feray schlichtweg ratlos: "Sie kennen doch die Freiheiten, die Demokratie hier." Worauf Mehmet wieder auf die fehlende Bildung anspricht, die Respekt und Toleranz töte.

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