Weihnachten ohne Mama und Papa

Wallerfangen · Weihnachten ist das Familienfest schlechthin. Was aber, wenn Kinder es ohne Mama und Papa feiern müssen? Ein Besuch im St. Nikolaus-Hospital in Wallerfangen, wo Erzieher nicht nur am Heiligabend zur Ersatzfamilie werden.

 Natalie Dresen, Leiterin des Kinderheims St. Nikolaus-Hospitals in Wallerfangen, schmückt mit Heimkindern den Weihnachtsbaum. Foto: Oliver Dietze

Natalie Dresen, Leiterin des Kinderheims St. Nikolaus-Hospitals in Wallerfangen, schmückt mit Heimkindern den Weihnachtsbaum. Foto: Oliver Dietze

Foto: Oliver Dietze

Zarte Züge, kurze blonde Haare, verschmitztes Lächeln - nur die vier roten Kerzen des Adventskranzes beleuchten das Kindergesicht in dem noch dunklen Raum. Felix (Name von der Redaktion geändert) war heute Morgen als Erster wach, er rutscht auf dem Stuhl hin und her. Er ist aufgeregt. Weihnachten steht vor der Tür. Aber: Ein Weihnachten ohne seine Mama. Der kleine Junge wird Heiligabend nicht zu Hause mit seinen Eltern verbringen. Felix lebt im St. Nikolaus-Hospital in Wallerfangen . Er ist eines von vielen Heimkindern in Deutschland.

"Naaataliiieee?" ruft er schüchtern vom Gruppentisch in die hell erleuchtete Küche. Natalie, 38, Kurzhaarschnitt, Brille, warmes Lächeln, kommt hervor. Natalie Dresen ist Diplom-Pädagogin und leitet seit zwölf Jahren die katholische Einrichtung. 18 Kinder aus dem ganzen Saarland leben im Moment in der mehrstöckigen gelben Villa neben der St. Nikolaus-Klinik. Der Jüngste ist vier. Der Älteste 19. Viele waren oder bleiben über Jahre im St. Nikolaus-Hospital. Der Grund: Ihre Eltern sind mit der Erziehung überfordert. Die Kinder leiden unter Vernachlässigung. "Für einige Kinder liegt schon ein Schatten über dem Weihnachtsfest. Gerade die, die noch nicht lange hier sind, wirken in diesen Tagen trauriger oder nachdenklicher. Natürlich vermissen sie trotz aller Verletzungen ihre Mamas und Papas", sagt Dresen. Auch die Eltern hätten häufig zwiespältige Gefühle. Einerseits möchten sie sich kümmern, andererseits schafften sie es einfach nicht.

Felix will jetzt endlich singen. So wie Natalie das sonntagsmorgens im Advent immer mit ihm und den anderen Kindern tut. Er hat sich an sie gekuschelt, und Natalie stimmt "Komm wir schauen in das Licht" an. "Wir stehen nicht in Konkurrenz zu den Eltern . Wir kennen unsere emotionalen Grenzen und die der Kinder. Wir versuchen, für die Kinder eine Ersatzfamilie zu sein - für die Zeit, für die sie uns brauchen", sagt sie später. Eine verlässliche Ersatzfamilie, die vertraut und der man vertrauen kann. Ein jahrelanger Prozess, in dem in der täglichen Erziehung für das zwölfköpfige Team des Hospitals Rituale und strukturierte Tagesabläufe eine große Rolle spielen. Sie geben ein Stück Normalität, ein Stück Sicherheit, die in vielen der kurzen Biografien fehlt.

Und das wird von den Kindern nicht nur angenommen, sondern - gerade in der Weihnachtszeit - auch gespiegelt: Goldene Geschenke mit Zahlen baumeln an Schnüren von der Decke des Gruppenraumes im Obergeschoss. Daneben hängt eine ausgeklügelte Liste mit Namen in unterschiedlicher Reihenfolge. Ganz ohne Aufforderung haben die 18 Kinder von St. Nikolaus einen Adventskalender für ihre Erzieher gebastelt. Tagelang machten sie sich gemeinsam Gedanken darüber, wer was mag und in welcher Reihenfolge sie die goldenen Tütchen verschenken.

Auch der Heiligabend steht in der Einrichtung, die seit 1844 in Wallerfangen existiert, im Zeichen des Rituals und der kirchlichen Tradition. Nach dem gemeinsamen Mittagessen machen Erzieher und Kinder einen ausgedehnten Spaziergang. Dann bauen sie die große alte Krippe auf, zünden Kerzen an und singen. Wenn dann alle die Christmette besuchen, bleibt Natalie Dresen im Heim, "um dem Christkind die Tür zu öffnen". Danach Bescherung mit Glöckchen.

"Die Größeren unserer Kinder würden den Kleinen nie ihren Glauben rauben - im Gegenteil, sie versuchen mit allen Mitteln, den Zauber mit uns aufrecht zu erhalten. Für mich ist das das schönste Zeichen von Zusammenhalt", erzählt Dresen. Der Zusammenhalt sei den Erziehern auch im Bezug auf die Eltern wichtig. Die Heimleitung führt mit allen halbjährlich Gespräche, an denen Vertreter des Jugendamtes teilnehmen. Das Ziel bleibe - auch wenn es häufig nicht dazu kommt - dass die Kinder irgendwann zurück in ihre Familie dürfen. Am Wochenende ist es manchen schon erlaubt, nach Hause zu fahren. Andere dürfen nur von ihren Eltern im Heim Besuch erhalten. So wie der kleine Felix. Er wird seine Mama am ersten Weihnachtsfeiertag in die Arme schließen - und darauf freut er sich.

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