Im Orientexpress nach Altötting

Saarlouis · Christian Lanyi leitet ab dem neuen Schuljahr das Max-Planck-Gymnasium Saarlouis. Er folgt Dr. Jürgen Hannig nach. Das MPG ist der Schülerzahl nach das größte Gymnasium im Saarland. Lanyi hat einen ungewöhnlichen Lebenslauf. „Immer wieder mit bloß einem Koffer neu anfangen“, sagt er. Das könnte auch sein Motto sein.

 Christian Lanyi hat das Nummernschild seines Autos aus Rio de Janeiro mit an seine neue Schule, das Max-Planck-Gymnasium in Saarlouis, gebracht. Foto: Hartmann Jenal

Christian Lanyi hat das Nummernschild seines Autos aus Rio de Janeiro mit an seine neue Schule, das Max-Planck-Gymnasium in Saarlouis, gebracht. Foto: Hartmann Jenal

Foto: Hartmann Jenal

Christian Lanyi, Lehrer für Mathe und Physik, neuer Leiter des Saarlouiser Max-Planck-Gymnasiums (MPG), hat einen Feind. Er versteckt sich gern im Lehrerzimmer. Oft in der Aktentasche des Deutschlehrers: der Konjunktiv , die "Möglichkeitsform". Die Welt steckt doch schon voller Möglichkeiten, da muss man nicht auch noch mit ihnen kokettieren. Mit "man müsste", zum Beispiel. "Man müsste - die Formulierung kann ich wirklich nicht leiden", sagt Lanyi, 46. Nein, besser sei: einfach machen. "Ich bin rastlos", räumt er ein, und wohl nicht jeder kommt so leicht klar mit so viel Bewegung.

Wie muss das gewesen sei, als er mit 15 im Orientexpress saß und von Budapest, damals noch sozialistischer Ostblock, nach Altötting, erstmals in den goldenen Westen, fuhr? Ausgerechnet Altötting, der katholischste aller bayerischen Marienwallfahrtsorte, als Ziel eines Schüleraustauschs mit einer Schule im Sozialismus. "Das war damals für mich alles surreal", sagt er heute.

Da hatte Christian Lanyi nicht nur bereits einen "Agitations-Wettbewerb" an seiner heimatlichen Schule in Dresden gewonnen. Da war er auch schon "Vorsitzender des Freundschaftsrates", eine Art, wie er sagt "Vorsitzender aller sozialistischen Jugendorganisationen an der Schule".

Reisen fand zu Hause in Dresden, in den 80er Jahren, vor allem abends statt. "Wir haben Deutschlandfunk gehört, aber wir hatten keinen Fernseher. Dafür haben wir dann abends im Weltatlas geblättert. Ich habe Bücher dazu gelesen wie das über die Geologie des Zuckerhuts in Rio de Janeiro."

Als Christian 12 war, zog seine Familie, der Vater ein ungarischer Physiker, die Mutter Sprachlehrerin, aus der DDR nach Ungarn um.

Budapest, eine neue Schule, eine neue Sprache. "Das ging", sagt Lanyi heute, es reichte sogar für Bestnoten. Eine Erfahrung, die ihn als Lehrer bis heute begleitet.

Mit 18 saß er wieder im Orientexpress, wieder mit einer Einladung aus Altötting, diesmal mit seiner Schwester und ohne Rückkehr. Die Eltern kamen mit dem Auto, einem Saporoshez, "die Papiere hatten sie hinten eingegipst".

Eigentliches Ziel der heimlichen Ausreise der Familie aus Ungarn war Freiburg gewesen. Der Vater fand schnell Arbeit, der Sohn ging aufs Gymnasium. Er studierte Physik, fand Geschmack am Lehrerberuf und nahm Mathe dazu. Erste Berufsjahre im Schwarzwald folgten, "das war ein tolles Gymnasium in Oberkirch". Zwischendurch fuhr er ganz allein ein halbes Jahr lang mit dem Fahrrad von der mexikanischen Grenze durch die USA bis nach Kanada. Jede Nacht ("bis auf zwei") im Zelt, "da habe ich mich kennen gelernt".

Dann meldete sich wieder das Fernweh. Südamerika. Lanyi lernte Spanisch in Argentinien und in Ecuador. Er bewarb sich um eine Stelle als Lehrer an einer deutschen Schule im Ausland. Hatte Glück, bekam Brasilien angeboten, die Deutsche Schule in Rio de Janeiro.

Die meisten seiner acht Jahre in Rio war er stellvertretender Leiter der Schule. Davon zeugt das bislang erste erkennbare Souvenir seines Lebens im neuen Büro am MPG: ein kleines Schild, "LOS-6087". Es ist das Autokennzeichen seines Geländewagens in Rio. Er widerspricht nicht, wenn man Brasilien als Herzstück seiner bisherigen Biografie bezeichnet. "Wenn man mich beschreiben wollte, ich bin Brasilianer. Ich gehe auf in dieser Kultur des freien Miteinanders." Und setzt hinzu: "Genau hier muss ich aber eine Lanze brechen für die Deutschen. Sie sind nicht verklemmt. Sie trauen sich bloß oft nicht - aber sie öffnen sich."

Auch zu Rio fallen ihm noch vor den Jahreszahlen die Erlebnisse ein: "Natürlich gibt es Straßenkinder und Verbrechen mit Kindern in Brasilien - aber den Umgang mit Kindern dort prägt ein bedingungsloses Angenommensein, das ist unglaublich. Mein Sohn, der war noch ganz klein, hat mal in einem Geschäft einen dieser Kaugummiautomaten mit der großen Glaskugel drauf umgeworfen. Alles zersplittert, die Kaugummis zwischen den Scherben am Boden. Ich war erschrocken und fragte, wie ich das wieder gut machen könne. Der Verkäufer wurde richtig böse, was ich denn glaube, wie er über Kinder denke, und dass ich annähme, er wolle auch noch Geld dafür, wenn ein Kind mal was kaputt mache."

Für den fachlichen Kontakt mit den Auslandsschulen einzelner Weltregionen sind einzelne Bundesländer zuständig; für Brasilien war es das Saarland, und dort hatte Lanyi Kontakt mit Sabine Blatt. Die wechselte zwischenzeitlich als Leiterin an das Saarlouiser Stadtgarten-Gymnasium (SGS). Als Lanyis Rio-Zeit um war, hatte ihm die Zusammenarbeit so gut gefallen, dass er sich für das Saarland entschied. Außerdem boten ihm die Saarländer gleich die stellvertretende Leitung des SGS an.

Und jetzt das MPG. Es gewann - gegen das Angebot, die Deutsche Schule in Sao Paolo zu leiten, ein Komplex mit 18 000 Schülern. Lanyi kokettiert nicht: Den Ausschlag für Saarlouis gab hier die Familie.

Nicht die Möglichkeit erwägen, sondern den Weg gehen: Lanyi brachte das immer wieder "Abschiede, auch Reife".

"Immer wieder mit bloß einem Koffer anfangen", das habe aber auch "immer wieder etwas Reinigendes", sagt er.

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