Schwerer als die Schwerkraft

Wustweiler · Von Denise Schirra aus Wustweiler, 23, kann man viel über ein Wunder lernen: dass ein Wunder nicht dasselbe sein muss wie ein Happy End, dass viele Leute an einem Wunder beteiligt sein können, und sogar, dass eine Behörde wie eine Landkreisverwaltung ein Wunder bewirken kann.

 Denise Schirra an ihrem Arbeitsplatz in Saarlouis. Foto: Hartmann Jenal

Denise Schirra an ihrem Arbeitsplatz in Saarlouis. Foto: Hartmann Jenal

Foto: Hartmann Jenal

Denise Schirra sitzt in ihrem Büro in Saarlouis vor einem Bürocomputer und würde nicht von einem Wunder reden, sondern "dass es einen Plan A gibt, und falls der nicht klappt, einen Plan B. Aber ich verfechte Plan A. Das ging fast immer." Plan A der jungen Frau lautete vor ein paar Jahren: Mittlere Reife ist genug Schule, keine Fachoberschule, kein Abi, "ich wollte lieber arbeiten gehen." Von gehen konnte keine Rede sein. Denises Muskeln funktionieren nicht. "Ich bin so geboren."

Sie kann nicht gehen, nicht stehen, noch nicht einmal für ein volles Lächeln reichen die Muskeln . Nach einer halben Stunde Gespräch sieht man es doch, ihr spitzbübisches Lächeln.

Sie kann nicht atmen und wird mit Sauerstoff versorgt. Sie hat noch nie in ihrem Leben etwas gegessen, mal von einem Joghurt abgesehen. Sie wird künstlich ernährt. Der Beutel mit Flüssignahrung hängt auf der einen, das Sauerstoffgerät auf der anderen Seite ihres E-Rollstuhls. Es ist ihr erster, mehr als ein Jahrzehnt alt, Ersatzteile gibt es schon nicht mehr. Ein neuer ist noch nicht genehmigt. Leben kann Denise nur, weil 24 Stunden jemand an ihrer Seite ist Aber: Denise arbeitet im Büro. Kein Happy End für die junge Frau aus Wustweiler, denn gehen wird sie niemals können. Aber doch ein kleines Wunder: eben weil sie regulär arbeitet.

Denise Schirra wohnt zu Hause bei ihren Eltern in Wustweiler. Der Vater ehemaliger Bergmann, die Mutter im Polizeidienst. Sie haben, erzählt die Tochter, "alles versucht, und es war nicht immer einfach", sie in einem Regelkindergarten, später in einer Grundschule unterzubringen. Das Wort Inklusion kannte da noch keiner.

Mit guten Noten wollte sie zur Realschule, Plan A. Aber es fand sich keine. "Die Schulleiter hatten Angst, oder es ging baulich nicht, oder sie hatten einfach keine Lust." Dann klappte es doch, an der ERS Ottweiler. Der Hauptschulabschluss folgte. Dann an die Handelsschule am Berufsbildungszentrum in Neunkirchen. Damals schon gehörte Marion Herrmann, Kinderkrankenschwester, zu Denises Pflege-Begleiterinnen. "Die Handelsschule war top", berichtet Herrmann.

Denise erinnert sich, "ich war da supergut aufgehoben", Schüler und Lehrer seien "lieb" gewesen, hilfreich und verständnisvoll. "Ich habe meine Mitschüler auch an den anderen Schulen eigentlich nur gut erlebt." Schreiben konnte sie immer, "für schriftliche Prüfungen haben sie mir mehr Zeit gegeben, aber ich habe das fast nie gebraucht."

Plan A, arbeiten gehen, nicht zu studieren, schien nach der Mittleren Reife zu scheitern. Sie machte ein Berufsgrundbildungsjahr (BGJ) in Homburg, "eine Quälerei. Es passte gar nicht." Danach doch kein Angebot des Bildungsträgers für eine Lehre. Betriebe lehnen ab, öffentliche Verwaltungen. Die guten Noten beeindrucken niemanden. Schließlich zwar keine reguläre Ausbildung mit anderen, aber eine dreijährige Ausbildung zur Bürokauffrau in einer virtuellen Klasse.

Büro und Computer stellte ein Bildungsträger in Homburg. Virtuelle Klasse heißt: Denise verständigte sich mit dem Lehrer des Berufsbildungswerks Neckargemünd und dem halben Dutzend anderer Schüler, die irgendwo in Deutschland saßen, jeder in seinem Kämmerchen, mit Mikrofon und Kopfhörern. "Zwar allein, ich hätte lieber mit den anderen Ausbildung gemacht - aber immer noch besser als ganz allein daheim."

Zum kleinen Wunder wurde die Geschichte vollends danach. Arbeitssuche, wieder mal ein Gang zum Arbeitsamt. "Da war an diesem Tag nur eine Vertretung da. Aber das war meine Dosis Glück."

Die Mitarbeiterin "wollte irgendwas möglich machen". Sie ist mit Margret Kuhn befreundet, der Leiterin des Jobcenters in Regie des Landkreises Saarlouis. Kuhn organisierte ein dreimonatiges Praktikum im Jobcenter. "Das hat mir die Augen geöffnet für diese ungewöhnliche Frau und für das, was sie kann." Danach kratzte Kuhn ein paar Zeitkontingente zusammen und zimmerte eine Fünf-Stunden-Stelle für Denise Schirra. Befristet auf zwei Jahre. Denn die junge Frau "leistet wirklich gute Arbeit".

Derzeit zum Beispiel erfasst und verwaltet Denise Daten von Schulzeitbescheinigungen. Für die Computer-Tastatur reicht die Kraft nicht. Sie schreibt aber ziemlich schnell, indem sie die Buchstaben mit der Maus auf einer Tastatur auf dem Bildschirm anklickt.

Denise Schirra mache einen "Top-Job", sagt ihr oberster Dienstherr, Landrat Patrik Lauer . "Sie hat alle Erwartungen noch mehr als übererfüllt." Ihr das Arbeiten zu ermöglichen, "dafür ist der öffentliche Dienst doch auch da, man kann ihn doch nicht immer nur unter ökonomischen Gesichtspunkten sehen." Eine solche soziale Verpflichtung nehme der Kreis ohnehin wahr, weil er die Schwerbehinderten-Quote übererfülle, sagt Lauer.

Jobcenter-Chefin Kuhn hofft konkret: Irgendwie müsse es doch möglich sein, Denise Schirras Arbeitsplatz auf Dauer zu sichern. Zuschüsse gibt es, das würde ja helfen.

Wenn Denise Schirra vom DRK-Wagen wieder nach Hause nach Wustweiler gebracht worden ist, bleibt ihr nicht viel zu tun, weil sie sich ja nicht bewegen kann. Sie liest gern: Thriller und Fantasy. Und sie macht gern Urlaub, war mit den Eltern in Italien, Frankreich, Österreich. Und würde so gerne einmal in den Urlaub fliegen können - angesichts des schweren, lebenserhaltenden Rollis kaum realisierbar. Derzeitiger Plan A: "Eine eigene Wohnung."

"Das ist mein Leben", sagt Denise Schirra. "Es ist nicht immer einfach. Aber Aufgeben ist keine Option." Ein Leben, für das gilt, was sie für die Kraft ihrer Finger sagt: "Alles, was über die Schwerkraft hinausgeht, ist schwer."

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