Aktion Stolpersteine gegen das Vergessen: Das Schicksal der Kahns und Hirschs

St. Wendel. Zehn Zentimeter groß sind die neun Gedenksteine, die bei der zweiten Verlegeaktion in St. Wendels Bürgersteigen eingelassen wurden. Sie erinnern an den letzten frei gewählten Wohnort von Menschen, die von den menschenverachtenden Nationalsozialisten (NS) vertrieben, gequält und getötet worden sind. Rückblick: Im Jahr 1933 lebten 136 jüdische Bürger in St. Wendel

 Der Künstler Gunter Demnig hat das Projekt initiiert und verlegt europaweit in den Städten die Stolpersteine. Hier verlegt er zwei Gedenksteine in der Mommstraße 11 in St. Wendel. Foto: frf

Der Künstler Gunter Demnig hat das Projekt initiiert und verlegt europaweit in den Städten die Stolpersteine. Hier verlegt er zwei Gedenksteine in der Mommstraße 11 in St. Wendel. Foto: frf

St. Wendel. Zehn Zentimeter groß sind die neun Gedenksteine, die bei der zweiten Verlegeaktion in St. Wendels Bürgersteigen eingelassen wurden. Sie erinnern an den letzten frei gewählten Wohnort von Menschen, die von den menschenverachtenden Nationalsozialisten (NS) vertrieben, gequält und getötet worden sind. Rückblick: Im Jahr 1933 lebten 136 jüdische Bürger in St. Wendel. Mindestens 33 von ihnen verloren jedoch ihr Leben, nur, weil sie Juden waren. In der Hospitalstraße 32 lebte die jüdische Familie Lehmann. Isaac Lehmann stammte aus Lengfeld und kam mit seiner Ehefrau Rosa Hess um 1893 nach St. Wendel, wo sie erst in der Kelsweilerstraße 27 (das Haus der Familie Wildmann vorn am Bahnübergang, später Sertl und heute Parkplatz), später in der Balduinstraße 16 im Haus von Mayer-Eppstein wohnten. Zwischen 1894 und 1907 wurden fünf Kinder geboren: drei Töchter und zwei Söhne.1917 kaufte Isaac für 7500 Mark das Haus in der Hospitalstraße 32. Nur drei Familienmitglieder sind den Nazis entkommen: Isaac Lehmann, sein Sohn Walter und seine Tochter Paula. Isaacs Ehefrau Rosa ist 1934 gestorben, ihr Grabstein steht noch heute auf dem jüdischen Friedhof bei Urweiler. Tochter Thekla (geboren 1897), eine ehemalige Bankangestellte, wurde für geisteskrank und Eugen Berl gerichtlich zu ihrem Vormund erklärt; sie kam nach Sayn bei Koblenz in eine jüdische Nervenheilanstalt und von dort direkt ins Konzentrationslager (KZ) Auschwitz, wo sie 1941 ermordet wurde.

Tochter Flora Maria (geb. 1907) war gelernte Säuglingsschwester. Als ihr Vater und ihre Geschwister im September 1935 das Haus in der Hospitalstraße verkauften und St. Wendel verließen, blieb sie in der Stadt und verzog im Sommer 1936 nach Frankfurt am Main. Ein Jahr lang arbeitete sie in einem jüdischen Heim für alleinerziehende Mütter und schwangere ledige Frauen, dann zog sie nach Forst nahe Berlin. Von dort wurde sie 1943 nach Auschwitz deportiert und umgebracht. Dr. Itzik Eshel, Isaacs Enkel, wohnt heute in Kensington im amerikanischen Bundesstaat Maryland. "Eigentlich setzen wir heute hier einen Stein zu wenig", sagte der St. Wendeler Historiker Roland Geiger. Denn bei der Familie Lehmann habe das Dritte Reich mindestens drei Todesopfer gefordert. "Der dritte Stein, der, den wir heute nicht setzen, wäre dann für Isaac Lehmann", erläuterte Geiger. "Ihm ging es wie seinem Sohn Walter, aber in viel stärkerem Maße". Isaac Lehmann starb 1937 in Israel an gebrochenem Herzen. Wie viele der 136 St. Wendeler Juden von 1933 den Holocaust überlebt haben, weiß man auch heute noch nicht genau.

Nohfelden. Zum Gedenken an Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sind in Bosen, Sötern und Gonnesweiler die ersten Stolpersteine verlegt worden. Fünf davon in der Nahetalstraße 31/32 in Gonnesweiler, wo die Familien Kahn und Hirsch von NS-Schergen aus dem dörflichen Leben herausgerissen wurden. Im Jahre 1933 lebten noch acht jüdische Menschen im Ort.

 Charlotte und Josef Kahn sind die Großeltern von Arnold Jost. Sie wurden 1942 in Theresienstadt ermordet. Foto: Familie

Charlotte und Josef Kahn sind die Großeltern von Arnold Jost. Sie wurden 1942 in Theresienstadt ermordet. Foto: Familie

"Die Zeit war ganz schlimm", berichtete die 82-jährige Renate Ball. Ihr Lehrer Meier unterrichtete die Schüler in NS-Uniform. Wenn sie mit der Schulklasse ein jüdisches Haus passierten, mussten alle Kinder das Lied "Wir kehren mit eisernen Besen, die jüdische Horde hinaus" anstimmen. Für sie persönlich war die Zeit eine ganz schwierige, denn ihre direkten Nachbarn, die jüdischen Familien Kahn und Hirsch, waren mit ihrer Familie eng befreundet.

"Man hat uns gedroht, unser Vater würde seine Arbeit bei der Eisenbahn verlieren, wenn wir die Nachbarn weiter besuchen", erzählte die Seniorin. Josef (geboren 1870) und Charlotte (geb. 1877, geb. Bach) Kahn hatten insgesamt zehn Kinder, wovon aber eines direkt nach der Geburt verstarb. Flora Kahn blieb als einziges Kind im Elternhaus wohnen und heiratete später Ludwig Hirsch aus Sötern. "Über die Wiese haben wir uns in der Dunkelheit zu ihnen rüber geschlichen", schilderte Renate Ball. Alles weist darauf hin, dass die Eheleute Kahn später mit anderen jüdischen Bürgern in einem so genannten Judenhaus gezwungen waren zu wohnen. Im Juli 1942 folgte die Deportation. Enkelkind Arnold Jost, damals sieben Jahre als, lassen noch heute die Bilder von vor 70 Jahren nicht los.

Deportiert und ermordet

"Als die Nazis meine Großeltern abgeholt haben, hat ein Mann in Uniform der Oma die Ohrringe abgerissen", weiß Arnold Jost noch genau. Auf dem Weg zum Bahnhof Neubrücker Mühle sah er seine Großeltern zum letzten Mal. Josef und Charlotte Kahn wurde noch im gleichen Jahr in Theresienstadt ermordet. Dort haben sie ihre Tochter Melliane "Melly" (geb. 1914) wiedergesehen, die dort als Rot-Kreuz-Schwester tätig war. Zum Schutz ihrer Tochter war es dem Ehepaar unmöglich, sich zu Melliane zu bekennen und diese anzusprechen.

Die Familie Hirsch wurde im Zuge der Deportation vom 29. April 1942 erfasst und in ein Arbeitslager nahe Lublin transportiert.

Aus einem späteren Schreiben geht hervor, dass die Familie gleich nach der Ankunft im Lager getrennt wurde. "Warum man so netten Leuten so etwas angetan hat, kann ich bis heute nicht begreifen", sagt Renate Ball. Noch heute ist sie Arnold Josts Nachbarin. Dazwischen stand früher das Haus seiner Großeltern. Es wurde in den 70er Jahren abgebrochen.

Auf einen Blick

Weitere Stolpersteine in der Gemeinde Nohfelden wurden in Bosen, Bostalstraße 62, Max Lion (geb. 1890, 1942 für tot erklärt), Flora Lion (geb. 1902, geb. Heimann, 1942 für tot erklärt) und die beiden Söhnen Günther (geb. 1927, 1943 für tot erklärt) und Egon (geb. 1937, 1943 für tot erklärt), verlegt. Sötern: Hauptstraße 55 Isaak Koschelnik, Johanna Hedwig Koschelnik (geb. 1892, geb. Kahn, ) Friedrich (geb. 1928) und Lotte (geb. 1929)., Leonore (geb. 1925, 1943 ermordet), Sötern, Hauptstraße 47, Arthur Wolf (geb. 1894), Pauline Wolf (geb. 1895), Jakob Werner (geb. 1922), Ludwig Erwin (geb. 1923), Herbert (geb. 1925) und Heinz Wolf (geb. 1928). Die Eltern und ihre vier Söhne wurden ermordet.

Mit den Stolpersteinen möchten die Veranstalter, die Gemeinde Nohfelden, die Gesamtschule/Gemeinschaftsschule Türkismühle und das Adolf-Bender-Zentrum St. Wendel ein Zeichen wider das Vergessen setzen. Eine Schülergruppe recherchierte gemeinsam mit einer Arbeitsgruppe im Adolf-Bender-Zentrum jüdische Schicksale aus ihren Heimatorten, die allesamt während der NS-Zeit deportiert und ermordet wurden. frf

Hintergrund

An diesen fünf Orten sind weitere Stolpersteine verlegt worden: In der Mommstraße 11 für Lydia Drechsler (geboren 1896, ermordet 1942 in Auschwitz), Julius Drechsler (1864, ermordet in Auschwitz), der in der Brühlstraße 9 wohnte, Walter Kahn (1905, ermordet 1944 in Auschwitz), Beethovenstraße 10, Elfriede Reinheimer (1884, ermordet 1942 in Auschwitz), Paul Reinheimer (1913, ermordet 1944 in Auschwitz), Bungertstraße 5, Gustav Sender (geboren 1880, ermordet 1943 in Auschwitz), Alsfassener Straße 74, sowie für Israel Lanz (1893, ermordet in Sobibór 1943)

Zusammen mit dem Landkreis St. Wendel realisierte der Verein Wider das Vergessen und gegen Rassismus aus Marpingen die zweite Verlegung von Stolpersteinen in St. Wendel. Durch sie wird an insgesamt 20 ehemalige jüdische St. Wendeler Bürger erinnert, die durch die Nazis ihr Leben verloren. frf

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