Hat Justiz junge Opfer vergessen?

Saarbrücken/Völklingen · Die Anwältin von zwei sexuell missbrauchten Mädchen wirft der Justiz vor, Interessen der Opfer missachtet zu haben. Gegen den Täter erging ein Strafbefehl, ohne dass die Opferanwältin informiert wurde.

Fast klammheimlich hat die saarländische Justiz ein Strafverfahren gegen einen 38-Jährigen aus Saarbrücken erledigt. Dem Mann wurde sexueller Missbrauch von zwei Schwestern im Alter von elf und 14 Jahren vorgeworfen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurde der Fall nach Aktenlage entschieden. Per Strafbefehl, den ein Staatsanwalt beantragt und ein Völklinger Amtsrichter erlassen hatte, wurde eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten Haft auf Bewährung verhängt. Selbst die auf Wunsch der Mutter der beiden Mädchen vom Gericht bestellte Opferanwältin Claudia Willger (Saarbrücken) erfuhr davon erst, als der Strafbefehl längst rechtskräftig war. Weil sie monatelang keinen neuen Sachstand zu den Ermittlungen bekam, beantragte die Anwältin Akteneinsicht bei der Staatsanwaltschaft, die ihr daraufhin eine Kopie des Strafbefehls samt Vermerk über dessen Rechtskraft schickte. Hatte die Justiz die Rechte der Missbrauchsopfer schlicht vergessen?

Der Fall in aller Kürze: Die beiden Mädchen , deren Eltern getrennt sind, übernachteten im Sommer letzten Jahres in der Wohnung ihres Vaters in Völklingen. Dort hielt sich nach einer Feier auch der heute 38-Jährige auf. Er näherte sich am frühen Morgen der schlafenden Elfjährigen, streichelte sie an den Beinen und am Gesäß. Wenig später missbrauchte er die damals 14-Jährige, in dem er sie mehrmals im Intimbereich berührte. Als die Mutter davon erfuhr, schaltete sie die Polizei ein.

Das von der Justiz gewählte Vorgehen bringt Willger auf die Palme. Sie beschwerte sich bei Justizminister Reinhold Jost (SPD ) schriftlich: Seit 25 Jahren sei sie als Opferanwältin tätig. Erstmals musste sie jetzt beim sexuellen Missbrauch von Kindern "die Erledigung über das Strafbefehlsverfahren " erleben. Willger weiter: "Ich hatte zuvor diese Möglichkeit noch nicht einmal gedanklich in Erwägung gezogen. Auch in der einschlägigen Fachliteratur habe ich diesbezüglich keine entsprechenden Hinweise gefunden." Den missbrauchten Mädchen seien sämtliche Rechte genommen worden, die ihnen bei einer Hauptverhandlung als anwaltlich vertretene Nebenklägerinnen zugestanden hätten. Zudem seien die Auswirkungen der Taten auf die Mädchen nicht berücksichtigt worden, "da sie nicht bekannt waren und bis heute nicht ermittelt sind". Auch in den Auflagen, die dem Mann, der Jugendtrainer eines Judoclubs war, gemacht wurden, blieben die Interessen der missbrauchten Kinder unberücksichtigt. Aus Sicht der Anwältin konterkarierte der "in diesem Fall praktizierte Umgang mit kindlichen Opfern alle Bemühungen für eine kindgerechte Justiz und die besondere Verantwortung von Justiz gegenüber Kindern".

Willger spricht von einem "massiven Vertrauensverlust" der Betroffenen in die Rechtsprechung. Die besondere Interessenslage der beiden geschädigten Mädchen sei einfach übergangen und missachtet worden. So sei auch die Möglichkeit versperrt worden, im Strafverfahren Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche klären zu lassen.

Dienstaufsichtsbeschwerden bei Staatsanwaltschaft und Gericht hatten keinen Erfolg. Der leitende Oberstaatsanwalt Ernst Peter Hirschmann teilte mit, das Strafbefehlsverfahren sei "aus Gründen des Opferschutzes" gewählt worden, weil den Kindern eine Aussage vor Gericht erspart werden sollte. Warum aber wurde deren Anwältin darüber nicht informiert? Eine Abteilungsleiterin im Justizministerium bedauerte immerhin, dass sich Mutter und Töchter durch das Verhalten der Strafverfolgungsbehörden benachteiligt sehen.

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