Lieber Gespräche als Rechtsstreit

Völklingen · Die lothringische Chemieplattform Carling/St. Avold ist für die Menschen im deutschen Teil des Warndts eine ungeliebte Nachbarin. Wie sieht es derzeit aus mit grenzüberschreitenden Belastungen, Informationen, Kontrollen? Ein Blick auf den aktuellen Stand der Dinge.

 Produktionsanlagen auf 330 Hektar: Das Industriegelände der grenznahen lothringischen Chemieplattform Carling/St. Avold in der vergangenen Woche – hier aufgenommen von der Rue de St. Avold in L'Hôpital. Foto: Becker & Bredel

Produktionsanlagen auf 330 Hektar: Das Industriegelände der grenznahen lothringischen Chemieplattform Carling/St. Avold in der vergangenen Woche – hier aufgenommen von der Rue de St. Avold in L'Hôpital. Foto: Becker & Bredel

Foto: Becker & Bredel

Eine David-gegen-Goliath-Geschichte hätte es werden können, ein deutsches Städtchen gegen den französischen Industriegiganten Total. Faktisch. Formal wäre es eine Beschwerde bei der EU-Kommission gewesen gegen die französische Behörde, die Total auf der grenznahen lothringischen Chemieplattform Carling/St. Avold mehr erlaubt hat, als das deutsche Städtchen für rechtens hält.

Aber dieser Streit findet nicht statt. Der zuständige Ausschuss des Völklinger Stadtrats hat entschieden, auf die EU-Beschwerde zu verzichten. Weil Völklingen den Gang nach Brüssel allein antreten müsste. Nachbarkommunen wollten bei der Beschwerde nicht mittun; Umweltverbände sagten nur beratende, keine finanzielle Unterstützung zu. Und weil Umweltminister Reinhold Jost (SPD ), in der Sitzung zu Gast, und Völklingens Bürgermeister Wolfgang Bintz (CDU ) argumentieren für ein weniger einsames Vorgehen. Lieber mit den Franzosen reden, als formell gegen sie streiten - in seinem Plädoyer dafür bemüht Bintz die "Asterix "-Comics: "Wenn wir meinen, als kleines gallisches Dorf agieren zu können, erreichen wir gar nichts."

Kein EU-Verfahren, dafür setzt es prompt Kritik. Die Bürgerinitiative (BI) "Saubere Luft für die Warndtgemeinden" fordert, der Rat möge den Beschluss revidieren. Denn nach Einschätzung einer Fachanwältin habe eine EU-Beschwerde gegen die französische Genehmigung Aussicht auf Erfolg.

Die Anwältin heißt Franziska Heß. Die BI hatte sie im Sommer eingeladen zu einem Vortrag. Thema: die geplante Carlinger Produktionsanlage für C 4-Harze. Die dienen als Kleber für Tablet- oder Smartphone-Bildschirme - Total will seinen lothringischen Standort fit machen für die Zukunft und dafür Millionen investieren. Ins Verfahren hatten die französischen Behörden auf deutscher Seite nur Völklingen einbezogen, wegen des grenznahen Stadtteils Lauterbach. Das und anderes sei europarechtlich nicht in Ordnung, urteilte Spezialistin Heß; denn Gift in der Luft hätte nicht nur Folgen für Lauterbach, sondern bis ins entferntere Saarbrücken. Und gar nicht "genehmigungsfähig" nach EU-Recht: Total wollte mit Lithium belastetes Abwasser in die Merle leiten.

Kann man ruhig ausprobieren, schrieb der Leiter der "Enquête publique", der öffentlichen Anhörung, in sein Resümee. Die Metzer Präfektur sehe das enger, berichtet André Johann, Referatsleiter im Umweltministerium, auf SZ-Nachfrage: Total müsse Lithium-Grenzwerte einhalten beim Wasser, das von der Produktion in die Abwasserreinigung fließt, und zudem ein Jahr lang die Lithium-Konzentration in der Merle messen. Auf deutscher Seite, in der Rossel, messe man ebenfalls Lithium - schon vor dem Start der neuen Anlage, um zu klären, wie sich die Konzentration ändere. Total müsse außerdem Butadien messen. Im deutschen Warndt wolle man die Messungen von Luftschadstoffen erweitern, sagt Johann: mehr Messpunkte, mehr Stoffe.

"Wir sind nicht Herr des Verfahrens", sagt sein Chef Jost dem Völklinger Ratsausschuss. Dennoch habe das Umweltministerium schon viel getan und viel erreicht. Er zählt auf. Eine Studie zum Gestank, über den sich Anwohner ab 2013 beschwerten - ergebnislos: Die Hälfte der "chemischen" Gerüche, die Bürger gemeldet hatten, habe man nicht der Chemieplattform zuordnen können, weil da der Wind in anderer Richtung wehte. Eine Studie über Flechten, die empfindlich sind gegen Schadstoffe und daher als Bio-Indikator gelten für die Luftqualität - Resultat: Experte Volker John fand mehr und vielfältigere Flechten als erwartet. Josts Folgerung: "Die Luft im Warndt ist sauber."

Und die grenzüberschreitende Information habe sich verbessert. So werde jetzt im französischen Chemie-Kontrollgremium CSS für deutsche Teilnehmer simultan übersetzt - "wir sind auf gutem Weg". Die französischen Behörden und die Firma Total hätten gelernt, deutsche Belange ernster zu nehmen als früher, sekundiert Bintz. Etliche Zuhörermienen bleiben skeptisch.

Die C 4-Harz-Anlage in Carling wird derzeit gebaut. Streiter, die gegen das Projekt die Waffen des Europarechts schwingen, sind nicht in Sicht.

Der 330 Hektar große Chemiekomplex auf der lothringischen Seite der Grenze bereitet den deutschen Anwohnern seit jeher Ungemach und Sorgen. Jahrelang flossen Chemie-Abwässer fast ungereinigt in die Rossel. Jahrelang litten vor allem die Lauterbacher im Sommer unter Übelkeit erregendem Gestank aus dem Carlinger "Bassin 7". In diesem Klärbecken, 30 000 Quadratmeter groß, faulten bei Wärme dicke Sedimente auf dem Grund. Erst 2004 ließen die Plattform-Betreiber die Ablagerungen abpumpen.

Unruhe hat auch die Informationspolitik der Plattform-Betreiber geschaffen. Es gab lärmintensive Bauarbeiten ohne Vorwarnung (Anfang 2002) und immer wieder Qualmwolken ohne befriedigende Erklärung. Und Störfälle, deren Tragweite die Plattform-Betreiber erst verspätet einräumten. Im Juni 2005 entwichen unkontrolliert rund sechs Tonnen der aggressiven Chemikalie Styrol in die Atmosphäre; wahrscheinlich hat nur Wetterglück - Westwind - eine für die Region katastrophale Explosion verhindert. Im Januar 2007 strömte krebserregendes Benzol aus. Im Juli 2009 wurden bei einer Explosion zwei Menschen getötet - die juristische Aufarbeitung des Unglücks dauert noch an (siehe "Auf einen Blick").

2013 klagten Anwohner in Lauterbach und einigen Großrosseler Ortsteilen erneut über Gestank. Ob dafür die Chemieplattform verantwortlich war, ist ungeklärt.

Hilflosigkeit empfinden die deutschen Anrainer angesichts der Sprachbarriere: Informationen gab es bisher (fast) nur auf Französisch. Den Untersuchungen, die das saarländische Umweltministerium veranlasst hat, bringen die Anwohner aber auch wenig Vertrauen entgegen. Sie fühlen sich von den deutschen Behörden schlecht vertreten - ihr Zorn ist groß.

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Auf einen BlickIm Juli 2009 explodierte auf der Chemieplattform in Carling/St. Avold ein Aggregat an einer Dampfspaltanlage (Steamcracker). Zwei Arbeiter starben, sechs weitere wurden teilweise schwer verletzt. Heute beginnt vor dem Tribunal Correctionnel Saargemünd der Prozess, der klären soll, ob die Firma Total und der damalige Anlagen-Chef sich der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht haben. dd

 Experte Volker John (rechts) erklärt Flechten-Funde aus dem Warndt. Archivfoto: Becker & Bredel

Experte Volker John (rechts) erklärt Flechten-Funde aus dem Warndt. Archivfoto: Becker & Bredel

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HintergrundDie Firma Total ist derzeit dabei, ihre Produktion auf der Chemieplattform Carling/St. Avold komplett umzustrukturieren. Sie will ältere, offenbar nicht mehr rentable Anlagen stilllegen - mit dem Steamcracker ist das bereits geschehen - und durch Neubauten anderen Typs ersetzen. Das geplante Investitionsvolumen für das "Ambition 2016" genannte Gesamtprojekt liegt bei über 150 Millionen Euro. dd

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