Sucht nach Nichts

Saarbrücken/Neunkirchen · Sie wog nur noch 33 Kilogramm, litt an Magersucht und Ess-Brech-Sucht. Jetzt sieht sich die junge Neunkircherin auf einem guten Weg zur Heilung. Sie gründet in Saarbrücken eine Selbsthilfegruppe für von Essstörungen betroffene Frauen. In der SZ spricht die Studentin über ihre Krankheit, über Hilfe und das Vertrauen in sich selbst.

Eine junge zierliche Frau öffnet die Tür zu ihrer eben erst bezogenen Wohnung. Aufgeräumt, noch nicht vollständig möbliert, strahlen die hellen Räume einen Neuanfang aus - eine neue Stadt, mit ihrem Freund zusammengezogen. Wenn man ihre Geschichte kennt, sieht man den Neuanfang in einem anderen Zusammenhang. Denn sie hat Anorexie , also Magersucht , und Bulimie. Sie will nicht erkannt werden, deshalb nennen wir sie Nicole. Zum ersten Mal spricht die junge Frau öffentlich über ihre Krankheit. Anderen Betroffenen zu helfen, ermutige sie zu diesem Schritt.

"Ich war 21, als es bei mir mit einer restriktiven Anorexia nervosa angefangen hat", erzählt die heute 25-Jährige. Beim restriktiven Typ der Magersucht verweigert der Körper die Nahrungsaufnahme. Man isst einfach nichts. Die Entwicklung der Krankheit sei ein schleichender Prozess, fügt Nicole hinzu. "Zwei Jahre später kam Bulimie dazu, zuerst leicht, dann schwer." Bei der Ess-Brech-Sucht werden Betroffene von regelrechten Fressanfällen übermannt, die mit Erbrechen enden. Der Körper lehnt die Nahrungszufuhr einfach ab. Die Medizinstudentin erinnert sich: "Da wog ich nur noch 33 Kilo." Ein Tiefpunkt, an dem sie fast gestorben wäre. Binnen weniger Monate schaffte sie es selbstständig wieder auf 43 Kilogramm. Was nicht zuletzt daran liegt, weil sie während der ganzen Zeit mit ihrer Krankheit offen umgegangen ist. Die Kraft, sich aktiv zu engagieren, hat sie erst jetzt gefunden. Nach vielen Gesprächen und Therapien hat sie in einer saarländischen Klinik ihren Weg zur Heilung gefunden.

Gesund sei sie noch nicht, sagt Nicole, aber auf einem guten Weg zu Heilung. Es gehe vor allem darum, Gefühle zuzulassen. Essstörungen können zwar auch genetisch bedingt sein, in den meisten Fällen sind die Ursachen aber tief in der Seele verankert. Eine Rolle können zum Beispiel die Familienstruktur oder die Erziehung spielen. Psychische Krankheiten, wie Depression, können den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen. Während von Fettleibigkeit mehr Männer als Frauen betroffen sind, ist es bei Bulimie und Anorexie umgekehrt. 2015 waren laut Statistischem Bundesamt 85 Saarländerinnen und sieben Saarländer wegen Bulimie oder Anorexie in Behandlung. Die Dunkelziffer ist höher, weil sich viele Betroffene schämen und sich keinem Arzt anvertrauen.

Ein Irrglaube ist auch, dass die Krankheiten immer mit Gewichtsabnahme einhergehen. Deshalb sind sie von außen oft nicht erkennbar. "Sowohl Bulimie als auch Anorexie kann man unter einem Suchtverhalten einordnen", erklärt der Saarbrücker Psychologe Frank Lessel. "Essstörungen sind eine Kompensation, zum Beispiel übermäßig Alkohol zu trinken", fährt Lessel fort. Eine Sucht nach dem Nichts. Die Psyche kompensiert durch körperlichen Verzicht.

Hilfe durch Austausch

Zur Gründung der Selbsthilfegruppe hat Nicole ihr Aufenthalt in der AHG Klinik Münchwies in Neunkirchen motiviert, wie sie erzählt. Das Zentrum für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Suchtmedizin gehe andere Wege als die meisten anderen Kliniken. "Während andere Zentren Patientinnen oft sogar zum Essen zwingen, therapiert die Klinik Münchwies mit viel Zuspruch und dem Aufbau von Selbstvertrauen", sagt Nicole. Das Konzept basiere darauf, den Patientinnen Eigenverantwortung und Autonomie zurückzugeben. Und diese Erfahrungen wolle sie in der Gruppe an andere betroffene Frauen weitergeben.

Interessierte wenden sich an die Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe im Saarland, Telefon (06 81) 960 21 30, www.selbsthilfe-saar.de

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