„In der Politik fehlt der Mut zum Systembruch“

Saarbrücken · Beim Diakonie-Gespräch über soziale Ungleichheit fordern Wissenschaftler und Praktiker einen tiefgreifenden Wandel im Sozialsystem.

 Teilnehmer des Freiwilligen Sozialen Jahres bei der Diakonie haben sich in verschiedenen Projekten mit dem Thema Gerechtigkeit auseinandergesetzt und unter anderem diese Tür entworfen. Foto: Katja Sponholz

Teilnehmer des Freiwilligen Sozialen Jahres bei der Diakonie haben sich in verschiedenen Projekten mit dem Thema Gerechtigkeit auseinandergesetzt und unter anderem diese Tür entworfen. Foto: Katja Sponholz

Foto: Katja Sponholz

Was sind die Folgen sozialer Ungleichheit und welche Ansätze gegen Armut sind möglich? Um diese Fragen zum Thema "Verteilungsgerechtigkeit" ging es am Dienstag beim ersten Diakonie-Gespräch im Saarbrücker Schloss. Im Reformations-Jubiläumsjahr diskutiert die Diakoniestiftung an der Saar in drei Veranstaltungen die soziale Lage.

Wie die aktuelle Situation vor Ort ist, schilderten Mitarbeiter des Diakonischen Werkes aus eigener Erfahrung. "1993 haben bei uns im Stadtteil elf Prozent der Menschen Sozialhilfe bezogen", sagte Anne-Marie Marx aus dem Stadtteilbüro Malstatt. Heute seien es 44 Prozent SGB-II-Empfänger. Eine Entwicklung, die auch Günter Jaeger vom Sozialkaufhaus Völklingen beobachtet hat: "Allein in den vergangenen fünf Jahren haben wir einen Zuwachs von 20 Prozent verzeichnet."

Zahlen und Studien, so Diakonie-Geschäftsführer Wolfgang Biehl, gebe es genug. "Das Problem ist: Sie werden nicht in Politik umgesetzt." Auch aus der Erkenntnis, dass die Überschuldung im Saarland höher als in anderen Bundesländern sei, seien keine Konsequenzen gezogen worden. "Man hätte die Insolvenzberatung verstärken können", sagte er.

Sorgen bereiten ihm vor allem die 34 Prozent Langzeitarbeitslosen unter den rund 30 000 Arbeitslosen im Land: "Sie haben wenig Perspektiven." Um diese Situation langfristig zu verbessern, ist seiner Ansicht nach ein öffentlich geförderter Arbeitsmarkt erforderlich.

Der Sozialwissenschaftler Professor Stefan Sell von der Hochschule Koblenz wies darauf hin, dass die großen Wohlstandsunterschiede innerhalb der EU zugunsten Deutschlands gingen. "Wir profitieren seit Jahren enorm davon", sagte er mit Blick auf rund 30 000 ausländische Ärzte, überwiegend aus Südosteuropa, in deutschen Krankenhäusern. "Diese mobilen Arbeitskräfte, mit sehr hoher Qualifikation, halten den Betrieb in unseren Krankenhäusern aufrecht. Gleichzeitig fehlen sie im Gesundheitssystem in Bulgarien und Rumänien."

Das große und spezielle Problem in Deutschland sind seiner Ansicht nach jedoch nicht die untersten zehn Prozent der Bevölkerung, die als arm gelten, sondern die 30 Prozent darüber. "Es sind die eigentlichen Leistungsträger unserer Gesellschaft. Es sind Leute, die arbeiten gehen, aber aufgrund der enormen Expansion des Niedriglohnsektors niemals auf einen grünen Zweig kommen." Sie würden zunehmend abgekoppelt von der gesellschaftlichen Wohlstandsentwicklung, was zu gesellschaftlichen Spannungen führe.

Einig waren sich Wissenschaftler und Praktiker, dass nur ein struktureller Wandel im System für mehr Verteilungsgerechtigkeit sorgen könne. Doch Diakonie-Geschäftsführer Biehl zeigte sich skeptisch: "Ich erlebe die Landesregierung so, dass nur weitere Daten erhoben werden." Das zeige das Dilemma der Politik: "Es gibt keinen Mut zum Systembruch."

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