Ein Regisseur auf der Reise

Saarbrücken · In Chile, in einem ehemaligen Folterlager der Pinochet-Diktatur, hat Regisseur Fabrice Murgia für sein neues Stück recherchiert, gefilmt und Ideen gesammelt. SZ-Mitarbeiterin Silvia Buss sprach mit dem Belgier, dessen multimediales Theater Children of Nowhere (Ghost Road zwei) am Freitag bei den Perspectives zu sehen ist.

 Faszinierende Effekte: Die Tanz-Performance der Gruppe Osmosis lässt das Nauwieser Viertel mit ganz neuen Augen sehen. Heute Abend geht es wieder los. Foto: Oliver Dietze

Faszinierende Effekte: Die Tanz-Performance der Gruppe Osmosis lässt das Nauwieser Viertel mit ganz neuen Augen sehen. Heute Abend geht es wieder los. Foto: Oliver Dietze

Foto: Oliver Dietze

Baut Children of Nowhere auf dem Stück Ghost Road eins auf, das vor zwei Jahren beim Festival zu sehen war?

Murgia: Ghost Road zwei ist nicht die Fortsetzung von eins. Aber wir haben die gleiche Methode gewählt. Wir sind mit der Schauspielerin Viviane De Muynck und dem Komponisten Dominique Pauwels an verlassene Orte in der Wüste gefahren, diesmal nach Chile. Um Menschen zu finden, deren Geschichte der des Ortes ähnlich ist. In Ghost Road eins ging es um Ökonomie, den Bezug zum Geld, diesmal um das politische Bewusstsein.

Es gibt viele Geisterstädte auf der Welt, warum haben Sie sich gerade für Chacabuco, die ehemalige Salpetermine in der Atamanc-Wüste, entschieden?

Murgia: Zum einen bin ich selbst in einem Bergarbeiterort aufgewachsen, die Arbeit im Bergbau war für mich wichtig. Zum anderen wegen der Rolle, die der Ort unter der Diktatur Pinochets gespielt hat, als Lager für politische Gefangene, die dort gefoltert wurden. Da diese Geschichte nur 40 Jahre zurückliegt, kann man noch Überlebende finden, die dort inhaftiert waren.

Wie gehen Sie das an? Fahren sie mit einem Plan dorthin?

Murgia: Nein, wir verbringen da immer erst ein paar Tage, um uns inspirieren zu lassen, von den Leuten, der Kultur. Wir hören auch Musik von dort. Als wir zum ersten Mal hinfuhren, haben wir den Ort erkundet und gefilmt, ohne jemanden zu treffen. Als wir dann ein Jahr später wieder hinfuhren, hatten wir Kontakte geknüpft. Da wussten wir schon, was wir die Leute fragen können.

Wie haben die Betroffenen, die ehemaligen Gefangenen, denn auf Ihr Anliegen reagiert?

Murgia: Sie waren sehr offen. Eine Familie, die damals gefoltert worden war, hat uns zu sich nach Hause eingeladen und mit wieder anderen Leuten zusammengebracht. Die meisten hat es berührt, dass junge Leute wie wir ihre Geschichte erzählen wollen. Denn in Chile ist es ein Tabu-Thema, man spricht kaum darüber.

Wie entstand dann aus dem Material ein Stück?

Murgia: Nach der zweiten Reise, bei der wir interviewt und gefilmt haben, hat sich Dominique zu Hause hingesetzt und Musik geschrieben, unter Verwendung der chilenischen Musik, die wir dort gehört hatten. Ich habe in der Zeit zugleich das Videomaterial bearbeitet und ausgehend von den Interviews den Text geschrieben. Dann begannen wir auf der Probebühne zu arbeiten.

Die Premiere war in Chile. Wie haben die Zuschauer reagiert?

Murgia: Es war sehr bewegend. Sie waren in ganzen Familien gekommen, weil es Themen sind, über die sie zu Hause unter sich nicht so gut sprechen können. Auch mich berührt diese Geschichte sehr. Meine Mutter ist Spanierin, ich habe darin ein bisschen von meiner Kultur wiedererkannt, auch wenn es nicht wirklich meine ist.

Children of Nowhere (Ghost Road zwei) ist am Freitag, 29. Mai, 20 Uhr, als Deutschlandpremiere in der Osthalle am Römerkastell (An der Römerbrücke 7) zu sehen. Karten: Tel. (06 81) 99 88 94 00.

Weitere Infos im Internet: www.festival-perspectives.de

Wie Geister huschen sie über die Fassaden: die Tänzer, die zwei weiß vermummte Radlerinnen aus lichtstarken Apparaten auf die Häuser im nächtlichen Saarbrücker Nauwieser Viertel projizieren. Gerade noch rechtzeitig, bevor sich die Forbacher Compagnie Osmosis am Montag um 22 Uhr in Bewegung setzte, hatte sich der Dauerregen verflüchtigt. Rund 70 Menschen lockte ihr Tanzparcours "Dance in the City", trotz kühler Temperaturen, auf die Straße. Hätten nicht aus der Ferne im Korso vorbeifahrende Fußballfans gehupt und gejubelt, so hätte man in der Johannisstraße eine Stecknadel fallen hören können. So lautlos setzte sich dieser Zug aus neugierigen Perspectives-Besuchern und radelnden Performern in Gang.

Riesinnen gleich beugten und drehten sich die Körper der Tänzerinnen bisweilen über fünfgeschossige Häuserfronten, um dann wieder auf fast reale Größe zusammen zu schnurren. "Sie streckt die Hand nach mir aus, es ist fast, als könnte ich sie ergreifen", sagte ein Mann fasziniert. Die Glasbausteine und Fenster, ja sogar Bäume aus den "Visionen" vermählten sich mit realen Fenstern, aus denen Anwohner hie und da neugierig ihre Köpfe reckten. So geheimnisvoll hatten wohl auch sie das Viertel noch nie gesehen. In einigen Baulücken, in denen die Performer real tanzten, zeigte das Konzept von Ali Salmi aber auch seine Schwächen. Denn choreografisch wirkten die Bewegungen doch recht beliebig und vor den großen Filmbildern nurmehr wie wenig berührende Miniaturen.

"Dance in the City" startet noch bis 30. Mai, täglich um 22 Uhr ab Johanneskirche. 29./30. Mai zusätzlich mit Live-Musikern.

 Szenenbild aus Children of Nowhere. Foto: Woronoff

Szenenbild aus Children of Nowhere. Foto: Woronoff

Foto: Woronoff

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Hintergrund Wie entsteht ein Festival? In verschiedenen Reportagen und Interviews erfragen wir, was alles nötig ist, damit ein Festival wie Perspectives stattfinden kann. Wie sich Künstler vorbereiten, wie Produktionen und Räume entstehen. Es kamen in den letzten Wochen bereits Zirkus-Akrobaten, Figurenspieler, Zauberer, das Team des Festivalclubs und natürlich die Festivalchefin zu Wort. Heute erklärt Regisseur Fabrice Murgia seine Arbeit. Ende der Woche wird noch Choreograf Christian Rizzo vorgestellt. red

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