„Kinder wurden als Objekte betrachtet“

Saarbrücken · Die Heimerziehung im Saarland von 1949 bis 1975 war geprägt von Mangel: an Geld, Fachpersonal und Zuwendung.

Als Lieselotte Luther drei Jahre alt war, verschwand ihre Mutter von einem Tag auf den anderen, der Vater wollte sich nicht um sie und ihre beiden Geschwister kümmern, und so kamen sie 1963 ins Kinderheim Hospital in St. Wendel. Der Beginn einer Kindheit, die von Strenge und Strafen geprägt war: Selbst bei kleinen Verstößen duschten die Ordensschwestern die Kinder kalt ab oder schickten sie auf den Flur, wo sie mit in die Höhe gestreckten Armen über Stunden ausharren mussten. "Richtige Biester waren das", sagt Luther. Doch es gibt auch Momente, an die sie sich gerne erinnert, an das gemeinsame Singen und Spielen mit einer jungen Ordensschwester etwa, zu der sie heute noch Kontakt hat.

Viele Kinder und Jugendliche, die zwischen 1949 und 1975 in Heimen in Deutschland leben mussten, machten traumatische Erfahrungen - sie wurden gedemütigt, misshandelt und geprügelt. Im Saarland wohnten in den 60er Jahren im Schnitt rund 1000 Kinder in Heimen. In den 70er Jahren nahm ihre Zahl stark ab, 1975 waren es noch 323 Kinder. "Die Heime waren eher ein Ort der Aufbewahrung als ein Ort der Erziehung", sagt Sozialministerin Monika Bachmann (CDU).

2014 hatte ihr Haus den Pädagogik-Professor Christian Schrapper von der Universität Koblenz-Landau beauftragt, die saarländische Heimerziehung von 1949 bis 1975 wissenschaftlich aufzuarbeiten - laut Schrapper das letzte aller Bundesländer. Zusammen mit ehemaligen Heimkindern, Vertretern von Heimträgern, des Landesjugendhilfeausschusses und des Ministeriums befasste sich sein Team mit diesem dunklen Kapitel der Geschichte. Gestern wurden die Ergebnisse vorgestellt.

Die Heimerziehung war laut Schrapper von einem eklatanten Mangel geprägt: an Geld, an Fachpersonal, an Zuwendung. "Die Kinder wurden als Objekte betrachtet, die verwahrt und gebessert werden mussten, nicht als individuelle Persönlichkeiten." Viele verbrachten etliche Jahre in den Einrichtungen. Auf das Leben danach waren sie oft unvorbereitet. "Sie wurden versorgt, aber ihnen wurde nicht vermittelt, was nötig ist, damit sie ihr Leben selbstständig führen können", sagt Schrapper. Verantwortung für das, was schief lief, trugen nicht allein Heimleiter und Erzieher - die Versäumnisse reichten weiter: "Kein Kind kam ins Heim, ohne dass das Jugendamt und das Vormundschaftsgericht beteiligt waren."

Für die heutige Heimerziehung zog Schrapper aus der Untersuchung drei Konsequenzen: Kinder müssten beteiligt werden, bei der Frage, wie ihr Leben gestaltet werden soll. In jeder Einrichtung müsse es funktionierende Beschwerdestellen geben. Und eine gute Heimaufsicht sei unabdingbar.

"Die erlebte Demütigung wirkt ein Leben lang", so Schrappers Fazit. Das wurde auch gestern bei der Vorstellung der Arbeit deutlich. Die Erinnerung an das Erlebte ging einigen ehemaligen Heimkindern sichtlich nahe. In einem bewegenden Appell riefen Betroffene die heutigen Verantwortlichen der Heimerziehung dazu auf, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und zu verhindern, dass "so etwas" noch einmal passiert.

Schrapper hatte seinen Vortrag unter das Motto "Graad selääds" (Jetzt erst recht) gestellt. Es sei beeindruckend, wie viele der früheren Heimbewohner, trotz denkbar "schlechter Startbedingungen" ihren Platz im Leben doch noch gefunden hätten, so Schrapper.

So auch Lieselotte Luther, die 1981 mit 21 Jahren das Hospital St. Wendel verließ. Sie sagt, die Kindheit im Heim habe sie stark gemacht. "Ich reagiere nicht empfindlich, wenn mir etwas schwer fällt." Augen zu und durch, sei ihr Motto, und: "Lachen, lachen, lachen - das Leben war schwer genug." Doch nicht jeder hat ihre Kraft. 30 ehemalige Heimkinder aus ihrem Bekanntenkreis hätten sich umgebracht, sagt sie.

Die Ergebnisse der Aufarbeitung werden in der Dokumentation "Lebenswege nach Heimerziehung. Porträts und Einblicke aus dem Saarland 1949-1975" (Panama Verlag) von Sabine Imeri, Claudia Ströder und Christian Schrapper zusammengefasst. Das Buch erscheint voraussichtlich im Mai.

Zum Thema:

Der Fonds "Heimerziehung West" Mit dem Fonds "Heimerziehung", finanziert von Bund, Ländern und Kirchen, wurden ehemalige Heimkinder entschädigt. Im Saarland gingen 686 Anträge auf Ausgleichszahlungen für Folgeschäden, etwa für Therapien, und 239 Anträge auf Rentenersatzleistungen von Betroffenen, die zur Zwangsarbeit genötigt worden waren, ein.

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