„Das große Ganze bleibt unter der Decke“

Saarbrücken · Anwältin Claudia Willger sagt, dass Polizei und Gerichten oft das Wissen fehle, richtig mit Opfern von Kindesmissbrauch umzugehen.

 Rechtsanwältin Claudia Willger Foto: Holger Kiefer

Rechtsanwältin Claudia Willger Foto: Holger Kiefer

Foto: Holger Kiefer

Vor einem Jahr ist in Berlin die Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs eingesetzt worden. Sie soll Ausmaß, Art und Folgen sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Deutschland aufzeigen. Die Saarbrücker Rechtsanwältin und Ex-Landeschefin der Grünen Claudia Willger führt für die Kommission Anhörungen von Missbrauchsopfern im Saarland, in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg durch.

Frau Willger, was bedeutet es für die Betroffenen, wenn sie von ihren Erlebnissen berichten?

Willger Es braucht sehr viel Mut und Kraft, um sich an die Kommission zu wenden und über das eigene Schicksal zu berichten. Ich merke bei den Anhörungen, was das für eine Zumutung ist. Aber ich spüre auch die große Dankbarkeit der Menschen, dass man ihnen zuhört, dass man sie ernst nimmt und als Experten wahrnimmt, die zu einer Lösung beitragen können.

Welche Erkenntnisse haben Sie aus den Anhörungen gezogen?

Willger Dass die wenigsten Dinge tatsächlich zur Anzeige gebracht werden. Es ist erschreckend, dass nur das Spitzlein des Eisbergs angezeigt wird und das große Ganze unter der Decke bleibt. Ich bekomme außerdem mit, dass das polizeiliche Verfahren, aber insbesondere der Umgang der Gerichte mit den Opfern, es Betroffenen denkbar schwer machen, ihre Sache aufzuarbeiten. In diesem Ausmaß war mir das aus meiner Arbeit als Anwältin bisher nicht bewusst.

Inwiefern machen Polizei und Gerichte es den Betroffenen schwer?

Willger Betroffene beklagen, dass von der Polizei gar nicht alle Beweise erhoben werden, die sie für möglich erachten. Das bezieht sich besonders auf den Bereich Internet. Gerade im Kontakt mit jüngeren Betroffenen merkt man, dass das "Cybergrooming" (sexuelle Belästigung im Internet, Anm. d. Red.) von der Polizei kaum erfasst wird und dass die Polizei nicht wirklich cyberfähig ist. Das andere ist, dass zu wenig für Vernehmungen geschult wird. Das setzt sich auf sehr dramatische Weise bei den Gerichten fort. Die Richterinnen und Richter haben oft eine "Learning by Doing"-Erfahrung im Umgang mit Betroffenen. Sie merken oft gar nicht, was sie bei Betroffenen auslösen. Ihr Wissen über die Auswirkung von Traumatisierung ist oft sehr begrenzt. Dadurch wird die gerichtliche Auseinandersetzung immer mehr auf die Sachverständigenebene geschoben: Immer häufiger müssen Sachverständige Glaubhaftigkeitsgutachten erstellen, was von den Betroffenen als extrem belastend angesehen wird und Verfahren unglaublich in die Länge zieht.

Gibt es Strukturen, die Missbrauch begünstigen?

Willger Überall dort, wo Kinder nicht ernst genommen werden, wo man nicht bereit ist, sich mit ihnen wirklich auseinanderzusetzen, haben sie einfach keine Chance. Ich denke zum Beispiel an einen jungen Mann, der geschildert hat, dass er in der Schule auffällig wurde und versucht hat, mit dem Vertrauenslehrer darüber zu sprechen, dass es ihm schlecht geht. Er hat dann den Ratschlag bekommen: Dann geh halt mehr mit dem Hund raus.

Gibt es einen typischen Täter?

Willger Nein. So wie ich es mitbekommen habe, passiert es in allen Schichten und in allen möglichen Zusammenhängen.

Viele Betroffene äußern sich kritisch zum Opferentschädigungsgesetz. Warum?

Willger Es ist erschreckend, wie wenig Betroffene unterstützt werden und wie hoch die Hürden sind. Sie müssen nachweisen, dass die psychischen Folgen, unter denen sie leiden, auf die Missbrauchserfahrungen zurückzuführen sind. Bei psychischen Folgen ist es aber schwierig, zu sagen, worin die Ursache liegt. Das ist bei einem Unfall, einem Beinbruch etwa, viel einfacher. Und wenn es im Strafverfahren zu einem Freispruch kommt, ist es fast nicht mehr möglich, Entschädigungszahlungen zu bekommen.

Die Fragen stellte Nora Ernst

Zum Thema:

590 Missbrauchsopfer haben sich bisher für eine Anhörung gemeldet. Zudem liegen rund 100 Berichte vor. In der Mehrzahl fand der Missbrauch in der Familie, insbesondere durch den Vater, statt. Die polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnet für 2015 in Deutschland rund 12 000 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch, davon rund 75 Prozent Mädchen. Betroffene und andere Zeugen, die an einer Anhörung teilnehmen oder einen Bericht einreichen möchten, können sich kostenlos und anonym unter Tel. (08 00) 4 03 00 40 oder per E-Mail oder Brief an die Kommission wenden (Kontakt unter www.aufarbeitungskommission.de ).

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort