Die Flöte klingt wie ein Vogel in der Sonne

Saarbrücken · Schwerhörige und taube Menschen fühlen sich oft von kulturellen Veranstaltungen ausgeschlossen. Nicht so im Staatstheater, wo Isabelle Ridder an ausgewählten Terminen Inhalte und Musik des Balletts vorab in Gebärdensprache übersetzt.

 Isabelle Ridder (l.) übersetzt die Worte von Julia Hartnik und Solopauker Martin Hennecke. Foto: Bub

Isabelle Ridder (l.) übersetzt die Worte von Julia Hartnik und Solopauker Martin Hennecke. Foto: Bub

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"Die Musik ist zart, sanft, ja traurig, kurz bevor Anastasias Mann getötet wird", erklärt Julia Hartnik, kommissarische Leiterin des Balletts im Staatstheater. Sie erhebt ihre Stimme gegen die Geräuschkulisse, die das Staatsorchester hinter ihr fabriziert. Während sich die 80 Musiker vor der Aufführung von Anastasia/Shadow einspielen, steht Hartnik mit Isabelle Ridder im Zuschauerraum des Theaters und spricht zu einem guten Dutzend Zuschauer. Die meisten lassen sich von den schiefen Tönen und dem Krach nicht beeindrucken. Sie sind schwerhörig oder taub und konzentrieren sich stattdessen auf Ridder, die mit Hilfe von Gebärden die Worte Hartniks übersetzt. "Zeichentanz" heißt die Reihe, bei der Hartnik den Inhalt und die Musik ausgewählter Vorstellungen zusammenfasst, und die Gebärdendolmetscherin Ridder übersetzt. "Ballett ist wie ein Puzzle, das erst durch Musik vervollständigt wird. Auch denen, die sie nicht hören können, wollen wir im Staatstheater etwas Stimmiges präsentieren", sagt Ridder. Aber wie übersetzt man Musik? "Zusätzlich zu den Worten von Frau Hartnik vermittele ich Bilder, um die Poesie der Musik zu transportieren. Ich sage den Zuschauern etwa, dass die Klänge einer Querflöte so frei sind wie ein Vogel im Sonnenschein", erklärt die 36-Jährige. Jede Einführung bedarf einer ausgiebigen Vorbereitung. So schaut sich Ridder die Stücke vorab mehrfach als Film an - zu verschiedenen Tageszeiten, in verschiedenen Gemütszuständen. "Erst wenn ich merke, dass die Musik zu jeder Zeit die gleichen Gefühle in mir hervorruft, weiß ich, dass neun von zehn gehörlosen Zuschauern wahrscheinlich auch so fühlen." Die Idee zu "Zeichentanz" hatte die ehemalige Ballett-Chefin Maguerite Donlon, deren Anspruch es laut Ridder war, Menschen mit Behinderungen ins Theater zu locken. "Wir haben uns in der Kita unserer Kinder kennengelernt, und Maggie hat sich sehr für meine Arbeit interessiert", erinnert sich die Saarbrückerin, deren Mann taub ist. Im Sommer 2011 sei die Idee geboren worden, Ballettstücke zu übersetzen, im Herbst ging es los. Während einer Aufführung in der Alten Feuerwache hat Ridder auch schon synchron gedolmetscht: "Das war hochspannend. Ich stand neben der Bühne und durfte die Choreographie keinesfalls beeinflussen." Sie habe das Stück in- und auswendig kennen müssen, da ihr Blick zum Publikum gerichtet war und sie sich nicht an den Tänzern orientieren konnte. Eine solche synchrone Übersetzung wünscht sich auch Zuschauerin Anne Böttcher beim gemeinsamen Gespräch nach Aufführungsende. "Bei dieser Vorstellung war das leider platztechnisch nicht möglich", erläutert Hartnik: "Aber wir versuchen, daran zu arbeiten."

Ein Zuschauer regt an, Übersetzungen auf einer Leinwand einzublenden, eine andere Besucherin schlägt vor, die Stimmungen mit Licht zu untermalen. "Die Anregungen sind gut", sagt Hartnik - und äußert die Hoffnung, dass die neue Ballett-Führung das Programm für Gehörlose weiterführen wird.

Morgen, 19.30 Uhr, läuft im Staatstheater die Benefizvorstellung "Liebe in schwarz-weiß" (Schreibweise des Staatstheaters) mit "Zeichentanz"-Einführung ab 18.45 Uhr.

Unterstützt werden der Förderkreis der Schule für Gehörlose und Schwerhörige sowie der Verein Miteinander leben lernen.

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