„Das ist für uns schwer nachvollziehbar”

Losheim · Auf den ersten Blick sieht man es Jürgen nicht an. Ein kariertes Hemd, ordentlich zugeknöpft, eine sportliche Jacke, die Augen hellwach. So präsentiert sich der 60-Jährige auf seinem Porträtfoto für die Ausstellung "Auf Augenhöhe - Gesichter der Armut". Jürgen lebt in einer schönen Wohnung in Saarbrücken, sagt er. Das war nicht immer so. 14 Jahre seines Lebens hat er auf der Straße gelebt. Nach seinen Worten war das für ihn eine bewusste Entscheidung: "Ich hatte einfach keine Lust mehr bürgerlich weiter zu leben." Die Ausbildung zum Elektriker hat er als Jugendlicher abgeschlossen. Auf der Abendschule seine Mittlere Reife nachgeholt. Später hat er sogar noch das Abitur am Saarland Kolleg gemacht und mit Mitte 20 damit begonnen Volkswirtschaftslehre zu studieren. "Am Nachmittag bin ich Taxi gefahren, um das alles zu finanzieren." Mit Mitte 40 hat er dann seine feste Arbeit aufgeben, bewusst keine Miete mehr bezahlt und ist auf die Straße gezogen.

"Das ist für uns schwer nachvollziehbar, aber da müssen wir unseren Blickwinkel ändern", sagt Wolfgang Edlinger, Vorsitzender der Saarländischen Armutskonferenz: "Wir dürfen unser Leben nicht als Maßstab für das Leben Anderer nehmen. Wir können nicht von dem, was für uns wichtig und aus unserer Sicht richtig ist, auf das schließen, was anderen wichtig ist. Das ist oft emotional schwer zu begreifen. Aber so ist es eben." Gearbeitet hat Jürgen gelegentlich in einer Spedition. Einige Zeit hat er Post ausgefahren. Ein anderes Mal in einer Schreinerei gejobbt. "Ich wollte kein Hartz-IV", sagt er entschlossen. "Jobs habe ich bekommen weil ich nicht obdachlos aussah. Jeden zweiten Tag habe ich in der Wärmestube geduscht, mich rasiert und so weiter." Dort hat er auch meistens gegessen. Seine freie Zeit verbrachte er hauptsächlich in der Bibliothek. Vor allem die amerikanische Literatur hat es ihm angetan. "Edel-obdachlos" so bezeichnet er sein Dasein zu der Zeit. Wenn er nicht in der Bibliothek saß, war er in einem der Saarbrücker Cafés zu finden. "Dort habe ich sehr viele gute und nette Menschen kennengelernt, Kontakte geknüpft und Freunde fürs Leben gefunden." In der Obdachlosen-Szene habe man keine Freunde. Höchstens Zweckgemeinschaften. Seine Freunde sind alles "Bürgerliche", wie er sagt. Und die halfen ihm auch. Gaben ihm ab und an etwas Geld oder einen Schlafplatz. Irgendwann waren es auch diese Freunde, die ihm rieten, sich doch wieder eine feste Bleibe zu suchen. "Man merkt, dass es körperlich, gesundheitlich und auch geistig irgendwannnicht mehr geht. Aber wenn die Entscheidung nicht von einem selbst kommt, nervt das", sagt Jürgen, dem es eigentlich schwer fiel sein Leben auf der Straße aufzugeben. "Das ist ein Prozess", erklärt Edlinger: "Man bietet immer wieder Hilfe an, und dann merkt man, dass derjenige noch nicht so weit ist. Und dann muss man, auch wenn es schmerzlich sein kann, wieder einen Schritt zurückrudern." Manchmal, so weiß er aus Erfahrung, schaue man den Menschen fast hilflos dabei zu, wie sie sich selbst zerstören.

Vor zwei Jahren musste schließlich aber auch Jürgen einsehen, dass es wie bisher nicht mehr ging, und hat mithilfe des Projektes "Altersgerechtes Wohnen" den Weg zurückgefunden. Überlebt habe er die Zeit ohne festes Dach über dem Kopf, weil er gänzlich auf Alkohol und Drogen verzichtet habe. "Das ist überlebenswichtig! Die erfrorenen Obdachlosen, von denen man hört, sind in der Regel zugedröhnt." In seinem kältesten Winter seien es Minus 20 Grad gewesen. "Da kommt es drauf an, einen guten, trockenen Schlafplatz zu finden und vor allem nüchtern zu sein, einen klaren Kopf zu haben." Den wünscht er vor allem auch den jungen Menschen. "Wenn sie den Drogen verfallen, gibt es oft keinen Weg mehr zurück", ist seine Befürchtung. "Haltet durch, holt euch Hilfe und versteckt euch nicht. Das habe ich auch nicht getan", rät er allen Betroffenen. Dies sei ihm eine Herzensangelegenheit. "So nette Menschen wie er kennen gelernt habe, so frei er sich gefühlt habe, Jürgen muss zugeben, dass das Leben auf der Straße ihn verändert habe. "Ich war aggressiv. Sehr aggressiv. Das hat mir Angst gemacht", sagt er. "Ein Mal haben mich ein paar Bengel geweckt. Die hab' ich verprügelt. Gar nicht mehr aufgehört. Man hat 24 Stunden Input. Sehr wenige Ruhephasen. An Fastnacht zum Beispiel, habe ich nie geschlafen. Dann ist man mal vier Tage am Stück auf den Beinen. So etwas verändert einen." Wenn Jürgen heute Obdachlosen begegnet, die grimmig auf ihn reagieren, kann er das verstehen: "Ich ignoriere das dann. Das ist ein Selbstläufer, das kann man gar nicht abstellen."

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Die Ausstellung in Losheim "Auf Augenhöhe - Gesichter der Armut" wird noch bis Donnerstag, 30. März im 3. Stock des Hauptgebäudes der Peter-Dewes-Gemeinschaftsschule gezeigt und kann nach vorheriger Absprache und Anmeldung über das Sekretariat der Schule montags bis freitags von 8 Uhr bis 15 Uhr besucht werden.

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