Angst vor der Rückkehr nach Eritrea

Besseringen · Kommen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) im Saarland an, ist meistens der Regionalverband für ihre Betreuung zuständig. SZ-Redaktionsmitglied Elsa Middeke hat Mirko Engel vom Jugendamt gefragt, wie die Jugendhilfeplanung mit der Welle von jungen Flüchtlingen umgeht.

 Die jungen Eritreer beim Fußsballspielen vor dem Haus Sonnenwald in Besseringen. Foto: Rolf Ruppenthal

Die jungen Eritreer beim Fußsballspielen vor dem Haus Sonnenwald in Besseringen. Foto: Rolf Ruppenthal

Foto: Rolf Ruppenthal

Unterdrückung, Bürgerkrieg und ein Fluchtweg von rund 8000 Kilometern aus dem ostafrikanischen Eritrea bis nach Besseringen - das haben die drei Jungen gemeinsam, die an einem Holztisch vor dem ehemaligen VdK-Erholungsheim Haus Sonnenwald sitzen. Alle drei tragen Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Alle drei sagen von sich, sie seien 17 Jahre alt. Alle drei haben schmale Schultern, glatte Wangen und ernste Erwachsenenaugen. Und alle drei fürchten sich davor, ohne Asyl wieder zurück nach Eritrea zu müssen - denn dort warte das Militär auf sie, im schlimmsten Fall die Todesstrafe, erzählt Samuel leise.

Samuel ist nicht sein richtiger Name. Auch die Namen der beiden anderen Jungen wurden für die SZ geändert, um ihre Persönlichkeitsrechte zu schützen.

Kennengelernt haben sich Haftom, Amanuel und Samuel vor wenigen Wochen in ihrer Notunterkunft in einer Turnhalle in Köllerbach. Da die Aufnahmestelle für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Völklingen, das so genannte Clearinghaus, überfüllt war, brachte der Regionalverband sie zuerst in der Turnhalle, am 2. Juni in Besseringen unter (die SZ berichtete). Dort werden die insgesamt 24 Jugendlichen bleiben, bis mit dem so genannten Clearingverfahren ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland geklärt ist - drei bis sechs Monate soll das dauern.

Grundrechte eingeschränkt

In der Diktatur Eritrea sind die Grundrechte der Menschen extrem eingeschränkt, informiert das Auswärtige Amt. Die innenpolitische, wirtschaftliche und soziale Lage wird von dem seit Jahrzehnten andauernden Grenzkonflikt mit Äthiopien bestimmt. Regimekritiker werden verhaftet oder verschwinden. Eine freie Presse gibt es nicht. Das Militär ziehe Jungen im Schulalter zum Dienst ein, ob sie wollten oder nicht, erzählt Haftom auf Tigrinya. Menschen vom Volk der Tigrinya sind eine von neun Ethnien in Eritrea - und die dort am stärksten vertretene. Etwa die Hälfte der fünf Millionen Menschen, die dort leben, sprechen Tigrinya. Die Sprache klingt kehlig und melodisch zugleich. "Ich war fünf Monate beim Militär", erzählt Haftom weiter. "Ich sollte mich verstecken und auf alle Menschen schießen, die sich nähern." Auch Samuel sollte als Scharfschütze ausgebildet werden, berichtet er mit heiserer Stimme, während er auf die Tischplatte schaut und seine Finger ineinander verknotet. "Zuhause gibt es keine Demokratie. Wir können uns nicht aussuchen, ob wir die Schule zu Ende machen oder einen Beruf lernen wollen." Selbst wenn, gebe es höchstwahrscheinlich gar keine Arbeit für sie, sagt Samuel. Er und Haftom setzten sich vom Militär ab und flohen als Deserteure aus ihrer Heimat. Amanuel flüchtete, bevor das Militär auf den Schuljungen im passenden Alter aufmerksam wurde und ihn rekrutierte.

Für den Weg durch die Sahara, über das Mittelmeer bis nach Italien und dann zu Fuß und mit dem Zug bis zum Saarbrücker Hauptbahnhof brauchten die jungen Eritreer zwischen fünf und acht Monate. Verwandte und Freunde haben ihnen von Deutschland berichtet: von einem sicheren Land, das Flüchtlinge aufnehme. In dem alle Menschen gleich behandelt würden. In dem die medizinische Versorgung gut sei. Und in dem alle in Ruhe zur Schule gehen und danach in einem frei gewählten Job arbeiten könnten. Für die drei Jugendlichen steht in Besseringen erst einmal Deutsch lernen auf dem Programm.

Wenn sie in Deutschland bleiben können, möchten die Jungen hier die Schule zu Ende machen. Haftom sagt stockend: "Ich würde danach gern Schriftsteller werden. Am liebsten möchte ich Bücher schreiben."

Sie sehnen sich aber nicht nur nach Sicherheit, Freiheit und Bildung. Am meisten vermissen sie ihre Familien. "Wir haben seit zwei Wochen keinen Kontakt mehr mit ihnen gehabt", sagt Amanuel. Über das soziale Netzwerk Facebook wollen sie ihre Verwandten wissen lassen, wo sie jetzt sind und dass es ihnen gut geht. "In Großstädten wie in der Hauptstadt Asmara wird das Internet nicht so streng kontrolliert", sagt Samuel, der lebhafteste der drei. Die Familien reisten aus ihren Heimatdörfern in die größeren Städte, um dort online nach Lebenszeichen der Jungen zu suchen. In Haus Sonnenwald, das kurzfristig als Dependance der AufnahmestelleVölklingen eingerichtet worden ist, gibt es aber noch keinen Internetanschluss.

Hier wohnen die Jungen in Einzel- oder Zweierzimmern. Um 8 Uhr heißt es aufstehen, es gibt feste Essenszeiten, gegen 22 Uhr sollen sie schlafen gehen. Auf den Fensterbänken stehen hier und da Turnschuhe zum Auslüften. Unten auf einer Wiese vor dem Haus spielt eine Gruppe Fußball, eine andere lernt an diesem Nachmittag weiter Deutsch. Einen Fernseher gibt es auch. "Leider durften wir gestern nicht aufbleiben, um uns das erste WM-Spiel ganz anzusehen", seufzt Haftom.

Die drei Jungen hoffen aber nicht nur darauf, mehr von der WM zu sehen. Das Land wollen sie kennen lernen, in Frieden mit den Saarländern leben und am liebsten ganz schnell Deutsch lernen, um sich mit den Besseringern und Merzigern unterhalten zu können. "Ich glaube, als große Gruppe machen wir ihnen vielleicht Angst", überlegt Amanuel. "Wenn wir uns einzeln verständigen könnten, wäre das besser." Ein deutsch-englisches Wörterbuch wünschen sie sich, auch Kinderbücher und -filme auf Deutsch oder Englisch könnten ihnen helfen, die Sprachen besser zu meistern, meinen die drei. Außerdem wollen sie nicht mit allen Jungen in ihrer Gruppe in einen Topf geworfen werden - einige seien schon darunter, die laut und aggressiv seien. Samuel, Amanuel und Haftom aber wollen alles tun, um hier bleiben und in Sicherheit leben zu können - und irgendwann einmal zurück nach Eritrea reisen, wenn sie sich nicht mehr fürchten, für ihre Flucht getötet zu werden. Um ihre Familien wiederzusehen.Herr Engel, welche Aufgaben erfüllt das Jugendamt bei der Betreuung der 24 Jugendlichen in Besseringen?

Engel: Das Jugendamt des Regionalverbandes ist örtlicher Träger der Jugendhilfe und somit zuständig für die Inobhutnahme dieser Jugendlichen. Dabei handelt es sich um eine vorläufige Schutzmaßnahme, zu der der Regionalverband aufgrund des Paragrafen 42 Sozialgesetzbuch (SGB) VIII und weiterer internationaler Rechtsabkommen verpflichtet ist. Das Jugendamt beauftragt einen freien Träger der Jugendhilfe (in diesem Fall einen Verbund aus Diakonischem Werk, SOS-Jugendhilfen Saarbrücken und Partnerschaftlicher Erziehungshilfe) mit der Betreuung und Versorgung dieser Personengruppe und finanziert auch diese Leistungen. Das Jugendamt wird in der Regel zum Vormund bestimmt und begleitet die Jugendlichen im asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren.

Wie ungewöhnlich ist die Unterbringung der 24 Jungen in dem ehemaligen Erholungsheim "Haus Sonnenwald"?

Engel: Es handelt sich hier um eine Notversorgung, die den üblichen Standards der Jugendhilfe nicht entspricht. Um zu verstehen, wie diese Notsituation entstanden ist, muss man wissen, dass der Regionalverband Saarbrücken seit Oktober 2010 über 700 UMF in Obhut genommen hat. Damit nimmt er einen bundesweiten Spitzenplatz ein. Ein Grund dafür ist vermutlich, dass Saarbrücken auf einer europäischen Hauptverkehrsachse liegt. Der Regionalverband versorgt somit mehr UMF als zum Beispiel die Bundesländer Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg. Es wurden in den letzten Jahren an die 300 Unterbringungsplätze geschaffen, darunter allein 28 Erstaufnahmeplätze in Völklingen, die ja derzeit nicht mehr ausreichen. Planerisch kann man sich auf eine Situation, wie wir sie aktuell vorfinden, kaum einstellen, da die Vorgeschichte der Einreise sich im Ausland und in der Illegalität (Schleusung) abspielt.

Wenn die Zahl der UMF im Saarland so hoch bleibt wie bisher in diesem Jahr oder sogar zunimmt: Welche Herausforderungen kommen auf die saarländischen Jugendämter zu?

Engel: Der Regionalverband Saarbrücken ist das am stärksten betroffene Jugendamt in ganz Deutschland. Die anderen saarländischen Jugendämter sind mit Ausnahme des Landkreises Saarlouis (allerdings in weitaus geringerem Ausmaß) als fallzuständiger Kostenträger praktisch überhaupt nicht betroffen. Von den rund 300 laufenden Fällen sind etwa zwei Drittel im Regionalverband und zirka ein Drittel in Einrichtungen in anderen Landkreisen untergebracht. Zu den Kosten und dem personellen Einsatz kommen noch Aufgaben wie das Finden geeigneter Immobilien, Personalakquise der freien Träger in Zeiten des Fachkräftemangels, Spracherwerb, Schulbildung und Abschlüsse, Integration in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt et cetera.

Was kostet die Unterbringung der 24 Eritreer im Zeitraum des Clearingverfahrens im Haus Sonnenwald?

Engel: Die Kosten sind derzeit nicht zu beziffern. Die provisorische Notunterbringung wurde unter starkem zeitlichen Druck realisiert und das ganze Betreuungskonstrukt ist noch im Werden. Üblicherweise werden in der Jugendhilfe personenbezogene Entgelte zwischen den öffentlichen und freien Trägern ausgehandelt, in denen die Kosten für Fachpersonal, Immobilie und alltägliche Bedarfe eingerechnet sind. Der Regionalverband Saarbrücken hat allein im Jahr 2013 etwa 9,2 Millionen Euro für die Unterbringung und Krankenbehandlung der UMF ausgegeben. Diese Kosten werden von den Ländern erstattet. Nicht erstattet werden dem Regionalverband allerdings die Verwaltungskosten, sprich der personelle Einsatz in der Verwaltung, dessen Kosten mittlerweile etwa 700 000 Euro betragen dürften.

Zum Thema:

HintergrundEritrea ist ein diktatorischer Zentralstaat in Ostafrika mit etwa fünf Millionen Einwohnern. Staatsoberhaupt und Regierungschef ist Präsident Isaias Afwerki. Die Regierungspartei "People's Front for Democracy and Justice" kontrolliert das soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben. Das Parlament ist inaktiv. Wegen des seit Jahrzehnten andauernden Grenzkonflikts mit Äthiopien ist die Lage im Land angespannt: Die Gesellschaft ist militarisiert, private Wirtschaft wird von staatlich gelenkten Unternehmen zurückgedrängt. Grundrechte wie Rede-, Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit sind kaum vorhanden. In der weltweiten Rangliste zur Pressefreiheit von "Reporter ohne Grenzen " belegt Eritrea unter 180 Ländern den letzten Platz, eine freie Presse gibt es nicht. Zahlreiche Kritiker des Regimes wurden verhaftet. Die Beziehungen zur Europäischen Union schwanken, auch wenn die EU der wichtigste Partner in der Entwicklungszusammenarbeit und der größte Geber humanitärer Hilfe ist. Quelle: Auswärtiges Amt, Reporter ohne Grenzen

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