Das Märchen von der guten Betreuung

Saarbrücken · Die Stadt schafft immer mehr Betreuungsplätze in ihren Kitas. Doch dadurch entsteht ein neues Problem: Die Betreuer haben jetzt kaum noch Zeit für die einzelnen Kinder.

 Keine Zeit für die Kleinsten: In Saarbrücker Kitas spitzt sich die Personalnot weiter zu. Von einer ausreichenden Besetzung kann nicht die Rede sein, sagt die Stadt. Symbolfoto: Arno Burgi/dpa

Keine Zeit für die Kleinsten: In Saarbrücker Kitas spitzt sich die Personalnot weiter zu. Von einer ausreichenden Besetzung kann nicht die Rede sein, sagt die Stadt. Symbolfoto: Arno Burgi/dpa

Wenn Angela ihren vierjährigen Sohn zur Kita bringt, dann hat sie ein gutes Gefühl. Sie und ihr Mann haben sich viel mit den pädagogischen Konzepten beschäftigt und danach die beste Kita für Felix ausgesucht. Die Kindergärten werben mit einem vielfältigen Programm um die Gunst der Eltern: Musikerziehung, Fremdsprachenunterricht, Vorschulprogramme, Naturpädagogik. Was Angela und ihr Mann aber vor allem wollen ist, dass sich ihr Sohn wohlfühlt. In den Arm genommen wird, wenn er weint, Hilfe bekommt, wenn er bastelt, ein waches Auge auf ihm ruht, wenn er tobt, damit er sich nicht wehtut.

Die Realität sieht aber anders aus: "Die aktuelle Situation in den Kitas grenzt an Kindeswohlgefährdung." Das sagt nicht irgendwer, sondern die Leiterin einer Saarbrücker Kita. "Wir machen keine Vor- oder Nachbereitung der Stunden, lassen Elterngespräche und Auswertungen ausfallen. Die Kinder in der Kita können nur noch betreut und beaufsichtigt werden. Mehr ist nicht drin." Die Leiterin will anonym bleiben. Sie befürchtet, dass diese Aussagen sie den Job kosten könnten.

Es ist ungewöhnlich, dass sich eine Leiterin zu solch dramatischen Schilderungen hinreißen lässt. Sie muss aber letztlich resignierend das bestätigen, was die SZ in einer Recherche zusammengetragen hat. Dass Eltern gebeten werden, ihre Kinder zuhause zu lassen oder früher abzuholen, weil nicht genug Erzieher da seien. Dass Kitas teilweise früher schließen, Gruppen zusammengelegt werden. Aktivitäten oder Ausflüge ausfallen müssen, weil nicht genug Betreuer zur Verfügung stehen. Eltern berichten von Vorfällen, bei denen Kinder in überfüllten Schlafsälen eine Stunde geschrien hätten, weil sie durch das wenige Personal nicht zu beruhigen waren.

Diese Hilferufe sind kein Einzelfall aus einer städtischen Kita, auch Eltern anderer Einrichtungen berichten Ähnliches.

Die dramatische Lage in den Kitas, hat ihre Ursache in einer eigentlich guten Entwicklung: In Saarbrücken sind seit 2011 rund 1500 neue Krippenplätze entstanden. Dazu ist das Angebot an Ganztagsplätzen in den Kitas für Kinder über drei Jahre deutlich ausgebaut worden. Das Problem ist nur: Es gibt nun zwar viele Plätze, aber nicht genug Erzieher. Zu schlecht noch die Bezahlung, zu wenige Anreize für Pädagogen.

Die Bertelsmann Stiftung hat sich in einer Studie mit der Kinderbetreuung an deutschen Kitas beschäftigt. Als wesentliche strukturelle Voraussetzung für die Qualität einer Kita hat sie hierbei das Verhältnis zwischen der Zahl der Erzieher und der Kinder ausgemacht. Die Macher der Studie empfehlen, dass in Krippen auf einen Erzieher 3 Kinder kommen sollten. In Kitas soll indes ein Erzieher nur für maximal 7,5 Kinder verantwortlich sein.

Die Realität sieht anders aus: Im Saarland ist die Quote 1 zu 3,5 in Krippen und in Kindergärten 1 zu 9,6. Nun könnte man sagen, das Saarland sei nah dran. Die Quote für das Saarland spiegelt aber nicht die aktuelle Situation wider. Denn sie rechnet mit einer Personalsituation, die es erstens in der Realität nicht annähernd gibt, und zweitens geht sie von falschen Voraussetzungen aus. Die Personalschlüssel der Stadt gehen davon aus, dass sich ein Erzieher zu 100 Prozent der Betreuung der Kinder widmet, kritisiert eine städtische Kitaleiterin. Zur Arbeitszeit gehörten aber auch zum Beispiel Elterngespräche und pädagogische Vor- sowie Nachbereitungen. Die Bertelsmann Stiftung geht davon aus, dass mindestens 25 Prozent auf diese Tätigkeiten fallen. Wenn die Stadt also diese 25 Prozent im Personalschlüssel ignoriert, dann gibt es eine gewollte strukturelle Unterpersonalisierung in Saarbrücker Kitas. Das bedeutet: Statistisch liegt das Betreuungsverhältnis im Falle eines Personalschlüssels von 75 Prozent schon bei 1:12,8. Voraussetzung ist aber, dass alle Stellen besetzt sind. In den 20 Kitas der Stadt arbeiten derzeit 350 Erzieher in Vollzeit- und Teilzeitarbeitsverhältnissen. Wie die Stadt mitteilt, können derzeit 19 Stellen nicht besetzt werden.

In der oben beschrieben Kita, in der die Leiterin die Vorwürfe der Eltern bestätigen musste, ist die Situation ernst. Unbesetzte Stellen und Langzeitkrankenscheine machen allein schon 25 Prozent fehlendes Personal aus. Hinzu kommen akute Krankheitsfälle. "Meine Mitarbeiter sind massiv überlastet. Das merkt man an den steigenden Krankenscheinen. Mitarbeiter sind anfälliger für Infekte, die Gesundung dauert länger als früher. Statt ein paar Tage dauert sie zwei Wochen, und dann sind sie oft immer noch nicht richtig auskuriert. Ich muss Mitarbeiter teilweise nach Hause schicken, um meiner Fürsorgepflicht nachzukommen. Viele Mitarbeiter stehen vor dem Burn-out", sagt sie.

Die Zahlen der Stadt bestätigen diese Notlage: Rund fünfzig Krankmeldungen lagen vergangene Woche vor. Somit fehlen fast 20 Prozent der Erzieher. Nimmt man alles zusammen, steht theoretisch derzeit nur knapp die Hälfte des Personals für die Betreuung der Kinder zur Verfügung. Die Bertelsmann Stiftung errechnet dafür ein Betreuungsverhältnis von 1:17 und schlechter.

Hat die Stadt vor ein paar Tagen noch versichert, die Situation sei aufgrund von Erkältungszeit und Fachkräftemangel zwar schwierig, aber nicht besorgniserregend, reagiert sie auf die SZ-Recherchen nun offen und ehrlich: Zwar habe man versucht, mit sogenannten Springerstellen die Lage zu entspannen, aber die Lücken, die Personalausfälle reißen, seien immer schwieriger zu schließen. "Von einer ausreichenden Besetzung kann daher in der aktuellen Situation nicht die Rede sein", sagt Stadtsprecher Thoma Blug. Die Stadt kann für die Situation eigentlich wenig: Der Stellenmarkt für Erzieher ist leergefegt. Die Personalisierung städtischer Kitas wiederum basiert auf den Vorgaben des Landesjugendamtes und richtet sich nach dem Personalschlüssel des Saarländischen Kinderbetreuungs- und Bildungsgesetzes (SKBBG).

"Die maßgeblichen Personalschlüssel genügen nicht mehr den Anforderungen der Praxis in den Kitas und sollten dringend angepasst werden. Die Inhalte und die Herausforderungen verlangen vor allem eines: Personal", sagt Stadtsprecher Thomas Blug und fügt an, man nehme die erhöhte Belastung der Mitarbeiter mit Sorge wahr. Man bemühe sich gerade darum, das Bewerbungsverfahren zu beschleunigen.

Doch die Situation könnte sich sogar noch zuspitzen: Der Regionalverband meldet, dass 2016 schon rund 480 Kindergartenkinder mehr im Regionalverband leben, als noch 2015.

Im Krippenalter gibt es sogar 550 Kinder mehr, als noch vor einem Jahr.

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