„Es gibt keine seelische Erkrankung, die andere gefährdet”

Völklingen · Dr. Claudia Birkenheier, Leiterin des Völklinger Gastfamilienprogramms für psychisch Erkrankte, erklärt das Konzept dahinter.

 Dr. Claudia Birkenheier leitet das Gastfamilienprogramm des Völklinger Familienpflegezentrums. Foto: SHG

Dr. Claudia Birkenheier leitet das Gastfamilienprogramm des Völklinger Familienpflegezentrums. Foto: SHG

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Anfangs dachten viele, es sei zum Scheitern verurteilt. Doch das Gastfamilienprogramm des Völklinger Familienpflegezentrums ist schon mehr als 20 Jahre alt. Dr. Claudia Birkenheier, Chefärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie an den Völklinger SHG-Kliniken, erklärt, wie und warum es funktioniert.

Frau Dr. Birkenheier, wie lange gibt es das Gastfamilienprogramm für psychisch Erkrankte schon, und wie läuft das genau ab?

Dr. Claudia Birkenheier: Das Programm gibt es seit 1995. Eine Gastfamilie, das kann ein Paar sein, eine Einzelperson oder auch eine Großfamilie, nimmt maximal zwei Personen bei sich auf. Die Besonderheit ist dabei, dass sie durch ein professionelles Betreuerteam aus unserem Familienpflegezentrum begleitet wird.

Wie kann man sich diese Begleitung vorstellen?

Birkenheier: Sie findet nach Bedarf statt, entweder hier in der Klinik oder per Hausbesuch. Einige Patienten müssen wir zweimal pro Woche besuchen, bei anderen reicht ein Treffen alle vier Wochen.

Wer finanziert das?

Birkenheier: Die Begleitung durch die Gastfamilie wird in den meisten Fällen über das Landesamt für Soziales finanziert. Falls der Gast selbst über Vermögen verfügt, übernimmt er die Betreuungskosten. Die Gastfamilie bekommt monatlich rund 1000 Euro. Das ist nicht viel Geld, sondern erfordert ein hohes soziales Engagement. Aus finanziellen Gründen nimmt das niemand auf sich.

Derzeit nehmen 30 seelisch erkrankte Menschen am Betreuten Wohnen in Familien teil. Wer sind diese Menschen? Und wer kommt dafür in Frage?

Birkenheier: Da könnte man 1000 Geschichten erzählen, und die Geschichten sind jedes Mal anders. Was alle gemeinsam haben, ist eine chronische seelische Erkrankung. Es geht hier nicht um Menschen, die vorübergehende psychische Probleme haben. Es sind hauptsächlich jahrelange, schwierige Krankheitsverläufe, zum Teil auch mit schweren Suizidversuchen.

Wo kommen die Menschen her? Wo waren sie vorher?

Birkenheier: Manche wurden in eine Klinik eingewiesen, andere kommen aus Wohngruppen für Betreutes Wohnen. Andere sind wiederum obdachlos oder lebten zuvor im Heim.

Lehnen Sie die Aufnahme in eine Gastfamilie auch mal ab? Gibt es nicht auch Menschen, die derart seelisch erkrankt sind, dass sie auch andere gefährden könnten?

Birkenheier: Es gibt keine seelischen Erkrankungen, die andere gefährden. Es gibt ganz selten Fälle, in denen die Integration in eine Gastfamilie nicht möglich ist, beispielsweise wenn jemand Drogen nimmt. Bei extremen körperlichen Beeinträchtigungen müssen wir auch den Einzelfall prüfen. Denn die Belastung für die Gastfamilie darf nicht zu groß werden.

Wir hatten mal einen Fall eines Mannes, der zuvor straffällig geworden war und Brände gelegt hatte. Der wollte ausgerechnet zu einer Familie auf dem Land mit Scheunen in der Nähe. Ich hatte große Bedenken. Aber dann haben die Familie und der Gast darauf bestanden, weil es menschlich so gut gepasst hat. Ja, und am Ende hat alles prima geklappt, es gab keine gefährlichen Situationen, allen geht es gut.

Gibt es einen Fall, der Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Birkenheier: Alle (lacht). Wir hatten vor vielen Jahren eine junge Mutter mit einer schizophrenen Psychose, die einen kleinen Säugling hatte. Sie wollte verhindern, dass ihr Kind ins Heim kommt, und bat deshalb um Aufnahme in einer Gastfamilie gemeinsam mit ihrem Kind. Wir haben auch eine Gastfamilie gefunden, in der sie dann drei Jahre lang lebte. Dann hat sich das Ehepaar jedoch scheiden lassen, und das Haus der Familie wurde verkauft. Der neue Käufer wäre bereit gewesen, die Mutter mit dem Kind im Hause weiter zu beherbergen. Die junge Frau war jedoch mittlerweile in so gutem Zustand, dass sie mit ihrem Kind in eine eigene Wohnung zog und selbstständig lebt. Und sie hat es geschafft. Das Kind hat mittlerweile einen guten Schulabschluss, und beiden geht es gut.

Ist das ein typischer Verlauf oder eher die Ausnahme? Wie lange bleiben denn die Patienten in der Familie?

Birkenheier: Dass ein Patient danach in eine eigene Wohnung zieht, ist eher selten. Und drei Jahre sind auch im Vergleich sehr kurz. Einige Patienten bleiben bis an ihr Lebensende in der Gastfamilie. Manchmal kommt es auch zum Wechsel zu einer anderen Gastfamilie. Das kommt sehr auf die persönlichen Umstände an. Jedenfalls lässt sich sagen, dass es jedem unserer Gäste gelungen ist, wieder am alltäglichen Leben teilzunehmen, in Sportvereinen oder in der Gemeinde aktiv zu werden und persönliche Interessen wahrzunehmen.

Das Gespräch führte Fatima Abbas.

Zum Thema:

Das Programm "Begleitetes Wohnen in Familien" (BWF), das das Zentrum für Psychiatrische Familienpflege Völklingen organisiert und betreut, gibt es bereits seit 1995. Bis zum 31. Dezember 2016 haben 130 psychisch kranke Menschen aus dem Regionalverband Saarbrücken und den Landkreisen Merzig-Wadern und Saarlouis diese Hilfe in Anspruch genommen. Aktuell sind 30 Patienten in Gastfamilien untergebracht. Dort lernen sie, den Alltag in einem familiären, stressfreien Rahmen zu bewältigen. Im Vordergrund stehen soziale Aktivitäten.

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